Isis
Sollte er nur glauben, sie sei mittellos und auf seine Hilfe angewiesen! Ein Anflug von Mildtätigkeit konnte ihm nicht schaden, und sie hatte ohnehin nicht vor, lange zu bleiben. Sie wusste nicht genau, weshalb sie das Kleine nicht direkt zum Tempel gebracht hatte, wie sie es Sarit versprochen hatte. Irgendetwas, das sie selber nicht benennen konnte, hinderte sie daran. Nur eine Weile ausruhen, sagte sie zu sich selbst, um wieder zu Kräften zu kommen, dann setzen wir unsere Reise fort.
Ruza drehte sich auf dem harten Lager zur Seite, das Pacher ihnen in einer Kammer zugewiesen hatte. Selbst hier hingen Büsche getrockneter Kamille von der Decke, die er irgendwann zu Geld machen würde. Sein ausgeprägter Geschäftssinn erstaunte und verwirrte sie gleichzeitig, weil sie ihn eher als verträumt und unentschlossen in Erinnerung hatte. Dabei schien Pacher mit dem Erreichten noch längst nicht zufrieden.
»Einmal selber eine Karawane ausrüsten, ja, das müsste man!«, sagte er, und sein Gesicht sah auf einmal ganz gelöst aus. »Um ausgefallene Spezereien von weit her zu holen.
Selber Weihrauch und Myrrhe einführen und dann direkt an den Tempel weiterverkaufen, damit ließe sich gutes Silber machen.«
»Aber ist das nicht sehr gefährlich?«, hatte sie eingewendet. »Viele Karawanen werden überfallen. Andere erreichen niemals ihr Ziel. Was würdest du machen, wenn du alles verlierst?«
»Wer nichts wagt, wird auch nie etwas gewinnen. Andere Männer mögen zum Krämer geeignet sein, mir steht der Sinn nach größeren Abenteuern.«
Wenn sie sich anstrengte, konnte sie inzwischen im Kanon der vielfältigen Gerüche Sesam und Anis unterscheiden, Kardamom, Kümmel und Fenchel, überlagert von Myrrhe und dem alles durchdringenden Weihrauch, den viele in Kemet auch ehrfurchtsvoll »Gottesschweiß« nannten. Eine Weile ließ sie sich wiegen von diesem betäubenden Duftteppich, der so viele Geschichten zu erzählen wusste. Dann aber kehrten sie zurück, die Bilder jener unvergesslichen Nacht, und verschmolzen mit ihren Träumen, bis sie nicht mehr genau auseinander halten konnte, was wahr war und was nur in ihrer Einbildung existierte.
Auf einmal waren sie überall gewesen, riesige grünliche Schuppenkörper, die den leichten Nachen immer enger umkreisten. Mit seitlichen Bewegungen ihres kräftigen Schwanzes bewegten sie sich erstaunlich behände. Wasser spritzte auf und ließ das kleine Gefährt schaukeln. Sie hatte sich mit beiden Händen an die Stange geklammert und verzweifelt nach Rettung oder Hilfe Ausschau gehalten. Aber der große Fluss war bis auf die gefährlichen Nachtjäger, die sie als Beute ausersehen hatten, dunkel und still.
»Hilf mir, Isis!«, hatte sie gestammelt. »Lass nicht zu, dass die Ungeheuer uns fressen! Und Du, Sobek, krokodilköpfiger Herr der unermesslichen Fluten, aus dessen Schweiß der Nil entspringt, verschone uns!«
Zunächst blieb alles ruhig. Dann peitschte der Schwanz des größten Krokodils eine kräftige Fontäne hoch. Der Nachen schwankte heftig und neigte sich gefährlich zur Seite.
Das Kleine weinte. Ruza schrie vor Angst schrill auf.
Aus dem Dunkel der Nacht lösten sich zwei Schiffskörper, plumpe Lastsegler, die schon fast vorübergeglitten waren, als sie endlich ihre Stimme wiederfand.
»Hilfe!«, schrie sie. »Rettet uns vor den Krokodilen! Lasst uns nicht sterben!«
Der Rest vollzog sich wie im Traum. Halb ohnmächtig nahm sie wahr, wie der zweite Segler seine Fahrt drosselte. Über eine Strickleiter zog man sie mit dem Kleinen hinauf, und sie schaute in das breite Gesicht eines Nubiers. Das Wasser um sie herum war wieder dunkel und glatt, und die mächtigen Echsen schienen längst in Richtung der Sandbänke verschwunden zu sein.
»Wer sind sie?«, ertönte eine tiefe Männerstimme.
»Eine Mutter und ihr Kind in Not«, flüsterte Ruza, als sie im Schein einer Fackel erschrocken erkannte, wer die Frage gestellt hatte: Pharao Taharka. Er trug die eng anliegende Kuschitenkappe, die die Rundung seines Kopfes betonte, und sah sie ernst an. Eine kalte Hand griff nach ihrem Herzen.
War sie denn wirklich schon im Totenreich und alles, was sich vor ihren angsterfüllten Augen vollzog, nichts als Illusion? Denn Taharka war tot und begraben, seit mehr als einem Jahr.
Dann jedoch löste sich Ruzas Verkrampfung. Sie wusste auf einmal, wer vor ihr stand, dem einstigen Pharao ähnlich wie ein leiblicher Sohn: Tanutamun, sein Neffe, der jetzt die Doppelkrone trug. Man
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