Isis
nicht länger vor der Nacht fürchten, denn seit dem plötzlichen Verschwinden des Kleinen verspürte er die Angst, sein Bett könne in der Dunkelheit den Anker verlieren und wie ein führerloses Boot auf dem großen Fluss einfach davonschwimmen. Der gleichmäßige Atem neben ihm war eine Art Tau, an dem er sich festhalten konnte, dünn und ziemlich brüchig zwar, aber immerhin ein Tau.
Neshet schnarchte auf ihrem Lager neben der Türe, das sie seit Selenes Abschied bezogen hatte. Der Bierkrug neben ihr war leer. Es war ein Kinderspiel, den Fuß zu heben und vorsichtig über sie zu steigen. Er war ein ganzes Stück gewachsen in den vergangenen Monden und dünner, gleichzeitig aber auch schneller und um vieles geschickter geworden, was er sehr genoss.
Tag für Tag lernte er dazu.
»Mein Großer«, so hatte der Vater neulich erst zu ihm gesagt und dabei im Vorübergehen kurz die Hand auf seinen Kopf gelegt. Und zum ersten Mal seit langem hatte er keine Angst vor der Nähe Basas gehabt. Er spürte, dass er ihn dem mickrigen kleinen Anu vorzog, und manchmal schämte er sich ein bisschen deswegen. Dann wieder war er froh darüber. Denn Mama verhielt sich so seltsam, seitdem sein Bruder geboren war. Der Vater dagegen war ein starker Mann, dem alle im Haus gehorchen mussten, auch wenn sie heimlich darüber murrten. Eines Tages würde er auch solch ein Mann sein.
Khay wünschte sich manchmal nur, es würde nicht mehr allzu lange dauern.
Auf der Treppe blieb er stehen und lauschte hinunter ins Dunkel. Ob dort die katzenschwänzigen Dämonen auf ihn lauerten, von denen Neshet ihm immer erzählte, wenn er zu frech wurde? Eigentlich bemühte er sich ja, immer folgsam zu sein und zu tun, was die Erwachsenen von ihm erwarteten, aber manchmal wollte es ihm einfach nicht gelingen.
In solchen Augenblicken spürte er Furcht und Widerstand, ebenso wie er keine verschlossenen Türen ertrug. Und weder Schreien noch Schläge.
Zunächst hörte er nichts. Als er jedoch angestrengt horchte, war da plötzlich ein ersticktes Stöhnen, das schnell wieder erstarb.
Sein Herz zog sich angstvoll zusammen. Aber er wollte doch groß und tapfer sein. Langsam, Stufe für Stufe, schlich er hinunter.
Die Tür stand angelehnt. Durch den Spalt fiel ein Lichtkegel, der ihn wie magisch anzog. Seine nackten Füße machten keinen Lärm auf dem geäderten Marmor, und wenn doch, dann schien der Vater es nicht zu bemerken. Er kniete neben einem ausgestreckten Körper, der bewegungslos am Boden lag.
Eine Frau — Mama!
Beim Näherkommen sah Khay die dunkle Lache, in der ihr Kopf wie auf einem aufgeschlagenen Fächer gebettet schien. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Aus dem leicht geöffneten Mund zog sich ein roter Faden. Woher hatte sie diese Flecken auf den bleichen Wangen und den grell verschmierten Mund? Sie erinnerte ihn an eine Puppe, die man weggeworfen hatte, weil sie nichts mehr taugte. Aber durfte man Menschen wegwerfen?
»Mama?« In seinem Kopf war ein Brausen, und hinter den Schläfen begann es schmerzhaft zu klopfen. Plötzlich war alles vergessen, ihre Kälte und die hässlichen Worte, die sie zu ihm gesagt hatte. Er wollte nur noch, dass sie sich bewegte. Oder wenigstens einen einzigen Laut von sich gab. Vor lauter Aufregung floss Blut aus seiner Nase,
dicke, warme Tropfen, die er kaum bemerkte, so groß war seine Angst inzwischen. »Mama, sag doch etwas!«
Langsam drehte sich der Vater zu ihm um. Sein Gesicht war wie ausgelöscht, der Mund ein weißer Strich, die Augen zwei leere Höhlen.
»Das kann sie nicht mehr, Khay«, sagte er mit unnatürlicher Ruhe. »Sie hat mich gebeten, sie zu töten. Und ich habe ihren Wunsch erfüllt.«
Der Junge konnte nicht mehr schlucken.
»Komm her zu mir!«, sagte der Vater und riss ihn an seine Brust. »Du musst jetzt ganz genau zuhören, mein Großer: Das ist ab jetzt unser Geheimnis. Nur du und ich teilen es. Sonst niemand. Und keiner darf es jemals erfahren! Verstanden?«
Er drückte ihn noch stärker an sich. Jetzt gab es kaum noch Luft zum Atmen für den Jungen. Khay brachte trotzdem etwas wie ein Nicken zustande.
»Gut«, sagte Basa und ließ ihn abrupt wieder los. »Ein Wort zu irgendjemandem - und du bist auch tot!«
oooo
Mit einem Schrei schoss Selene empor. »Was hast du?«, fragte Nezem erschrocken, der sofort wach geworden war.
»Schlecht geträumt?«
»Hörst du nichts?« Mit rasendem Herzklopfen lauschte sie in die Nacht hinein.
»Isis«, sagte er nach einer Weile.
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