Isis
Jetzt war das Kinderweinen deutlich durch die dünne Wand zu hören. »Wie gewöhnlich. Und ich dachte, sie schläft endlich durch.«
»Nein, das meine ich nicht.« Schweißperlen standen auf Selenes Stirn; ihr ganzer Körper war kalt. »Ich rede von dem Schrei. Da war doch eben ein furchtbarer Schrei. Wie in Todesangst. Du musst ihn doch auch gehört haben!«
»Ich habe tief geschlafen. Und das solltest du auch ganz schnell wieder tun.« Nezem entzündete ein Öllämpchen und betrachtete seine Frau besorgt. Sie war blass und zitterte. Er entschloss sich, ganz ruhig zu bleiben. »Vielleicht hat dir die Bohnensuppe zugesetzt«, sagte er und stand auf, um Isis zu holen. Mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm kam er wieder zurück. »Sie hat sich furchtbar erbrochen«, sagte er.
»Und ganz nass geschwitzt ist sie auch. Was ist nur los mit meinen beiden Frauen?«
Selene schien ihn gar nicht zu hören. Sie presste das Kind an ihre Brust. Isis weinte leise vor sich hin, schien sich in der Nähe ihrer Mutter aber allmählich zu beruhigen.
»Ich hätte sie schützen müssen«, flüsterte Selene. »Alle beide. Aber wie?«
»Wovon redest du eigentlich?«, fragte Nezem. »Das ist nichts als eine leichte Unpässlichkeit. Morgen geht es ihr bestimmt wieder gut. Du musst dir keine Sorgen machen. Sie ist kerngesund, unsere Kleine!«
»Am schlimmsten ist es, wenn die Hoffnung stirbt«, sagte Selene undeutlich und drückte ihr Gesicht an den warmen Hals ihrer Tochter. Wie sollte Nezem sie verstehen? Sie verstand ja selber nicht, was in ihr vorging. Aber das Schreckliche, das sie mit kalter Hand berührt hatte, schwebte noch immer im Raum. »Wenn die Hoffnung stirbt, stirbt schließlich auch der Mensch.«
Draußen versank der kleine Garten in Düsternis. Der Mond war untergegangen.
oooo
Da war ein Scharren vor dem Fenster, als ob große Krallen ungeduldig in harter Erde wühlten. Ruza fuhr auf und sah Meret aufrecht neben sich im Bett sitzen. Sie rief ihren Namen, mehrere Male, aber das Kind zeigte keinerlei Reaktion.
Mit zittrigen Fingern entzündete Ruza ein Licht. Merets Augen waren weit geöffnet, ihre kleine Brust hob und senkte sich stoßweise. Das Gesicht zeigte keine kindlichen Züge mehr, sondern trug den wissenden Ausdruck einer Erwachsenen.
Sie ist Sand, sie ist Ewigkeit, schoss es Ruza durch den Kopf, obwohl sie nicht wusste, woher diese merkwürdigen Worte auf einmal kamen. Neu beschrieben, glatt poliert, nie geboren, immer schon gewesen. Ich werde sie nicht halten können. Ich werde sie verlieren.
»Meret, mein Liebling, was hast du?«, brachte sie mühsam hervor. Heiliges Erschrecken drohte ihre Zunge zu lähmen.
Langsam wandte Meret sich ihr zu. »Mama!« Sie begann laut und heftig zu weinen. »Mama!«
Ruza fand keinen Schlaf, bis der erste Schimmer des Morgens sich am Horizont zeigte. Meret schlief, das Haar zerzaust, das Gesicht unter den Armen verborgen. Ruza zog schließlich ein Kleid über und schlich auf Zehenspitzen hinunter, eine Rücksichtnahme, die sie sich ebenso gut hätte sparen können, denn nirgendwo gab es eine Spur von ihrem Bruder, der das Haus wohl noch in der Dunkelheit verlassen hatte.
Zielstrebig betrat Ruza den kleinen Innenhof und ging zu dem Baum, unter dem ihr Schatz lag. Noch bevor sie zu graben begann, wusste sie bereits, was passiert war, denn Pacher hatte sich keine sonderliche Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen. Die Erde war nachlässig zugescharrt. Nur wenige Handbewegungen, dann stieß Ruza bereits auf den Gürtel, den er in die kleine Grube zurückgelegt hatte.
Sie war darauf gefasst gewesen, ihn leer vorzufinden, Pacher aber hatte eine Überraschung für sie vorbereitet. Als sie den Gürtel im weichen Licht der Morgendämmerung bewegte, ertönte nicht das vertraute Klirren der Schmuckstücke, sondern ein hässlicher, dumpfer Klang.
Ihre Finger zerrten an den Nähten, die eine kundige Hand einst gefertigt hatte, und es bereitete ihr eine merkwürdige Genugtuung, dass sie sich dabei zwei Nägel abbrach.
Endlich war der Spalt breit genug. Sie schüttelte den Gürtel, und billige Kupferbrocken fielen heraus, Schlackenstücke, die er irgendwo aufgelesen haben musste, um sie zu täuschen. Sie ballte ihre Fäuste und hieb mit aller Kraft auf den harten Boden ein, als sei er verantwortlich für Pachers Verrat. Und für ihre grenzenlose, unverzeihliche Dummheit. Ein Geräusch, als würde Feuer trockenes Holz oder Papyrus erfassen, ein Getöse, das all ihre
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