Isis
Gedanken wegblies. Für ein paar Augenblicke wurde es schwarz vor ihren Augen. Als sie wieder zu sich kam, stand Meret neben ihr und stupste sie zaghaft an. Fragend, aber nicht ängstlich war ihr Blick auf sie gerichtet. Zu ihrer Überraschung brachte Ruza sogar ein Lächeln zustande, zutiefst erleichtert, dass Meret wieder ihr vertrautes Kindergesicht hatte.
»Ja, du hast Recht, mein Liebling.« Sie stand langsam auf und klopfte sich den Staub vom Kleid. »Du hast ja so Recht! Wir brechen auf. Wir hätten längst schon aufbrechen sollen, wenn deine Mutter nicht zu dumm gewesen wäre. Oder zu feige. Hier jedenfalls hält uns nichts mehr.«
oooo
Dieses Mal betrat Ruza die Insel und, nachdem sie dem Fährmann ihr letztes Kupfer gegeben hatte, die gepflasterte Prozessionsstraße ohne Zögern. Vor ihr reckten sich die Säulen und Pfeiler Philaes in einen metallisch blauen Himmel. Keine einzige Wolke. Die Sonne stach wie mit glühenden Spitzen.
Ruza ging so ruhig und gleichmäßig, dass das Kind an ihrer Hand keine Schwierigkeiten hatte mitzuhalten.
Trotzdem war sie schweißgebadet, als sie endlich die wellenförmige Ziegelmauer erreichte, die den heiligen Bezirk umschloss. Der steinerne Pylon erhob sich vor ihr, mächtig und einschüchtemd. Ihre Zuversicht drohte zu schwinden. Niemals würde sie wagen, hier um Einlass zu bitten.
Nach längerer Suche entdeckte sie an der Westseite eine schmale Holztüre, die ihr geeigneter erschien, halb versteckt in der Mauer, der Eingang zum Geburtshaus, wie sie später erfahren sollte.
»Jetzt sind wir fast zu Hause, Meret.« Sie nahm allen Mut zusammen und klopfte zweimal kräftig. »Die Mutter aller Mütter erwartet uns sicherlich schon.«
Die Tür öffnete sich.
Vor ihr stand eine schlanke junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie hielt ein Sistrum in der Hand und trug auf dem Kopf einen Kranz aus weißen Blüten.
»Was willst du?«, sagte sie.
»Ich möchte zur Mutter aller Mütter«, erwiderte Ruza wahrheitsgemäß. »Bei meinem Leben habe ich einer Gebärenden geschworen, dieses Kind hierher zu bringen. Hätte ich es nicht getan, so wäre es jetzt tot.« Große Ruhe hatte sie erfasst. Aber sie wusste, dass das Schwierigste noch bevorstand. »Da sind wir nun. Auch wenn es etwas länger gedauert hat. Es war eine lange, gefährliche Reise, die wir zurücklegen mussten.«
Die junge Frau musterte sie mit Zurückhaltung, aber nicht unfreundlich.
»Was kannst du?«, fragte sie.
»Tanzen«, sagte Ruza, ohne lange zu überlegen. »Und singen.«
»Zu Ehren der Göttin tanzen und singen andere, jüngere und schönere als du.«
»Ich kann arbeiten — alles.«
»Wir haben genügend Mägde.« Der Spalt wurde kleiner. Eine Welle von Furcht drohte Ruza zu überfluten. Sie durften nicht abgewiesen werden, jetzt, wo sie endlich am Ziel angekommen waren!
»Schick uns nicht fort!«, bat sie. »Wir haben alles verloren.«
»Ihr lebt«, erwiderte die junge Frau, »und seid gesund. Ist das nichts?«
Ein leichter Wind hatte sich erhoben, der die Wipfel der großen Sykomoren im Tempelgarten bewegte. Bald schon würden ihre Früchte reif sein. Ruza schaute vorsichtig nach oben. Waren das wieder die unsichtbaren Schwingen der allmächtigen Göttin, die sie beim letzten Mal so unrühmlich in die Flucht geschlagen hatten?
Jetzt zählte jedes Wort. Nur die Wahrheit, die ganze, ungeschminkte Wahrheit, würde sie vor diesen unbestechlichen Augen bestehen lassen.
»Ich bin eine Mutter, aber mein Kind ist gestorben. Das ist jetzt mein Kind, obwohl ich es nicht geboren habe — und ein ganz besonderes Kind dazu. Es braucht euren Schutz. Vor allem aber braucht es eure und meine Liebe.«
Sie hatte noch nicht einmal einen Bruchteil dessen gesagt, was sie auf dem Herzen hatte, aber sie fühlte sich bereits weniger einsam. Und jetzt mussten den Worten Taten folgen.
Ohne den Blick von der jungen Frau zu wenden, hob sie Merets Hemd, schob es bis über die Hüften und ließ es wieder nach unten sinken.
Der Blick der jungen Frau wurde staunend. Dann erhellte ein Lächeln ihr bislang so ernstes Gesicht. War das das Zeichen, um das Ruza die Göttin immer wieder gebeten hatte?
»Wie heißt du?«, fragte die junge Frau und beugte sich liebevoll zu dem Kind hinunter. »Verrätst du mir deinen Namen?«
»Meret«, murmelte die Kleine und drückte sich verlegen in die Falten des Kleids ihrer Mutter.
»Ich bin Sanna«, sagte die junge Frau, noch immer lächelnd.
»Und wie heißt
Weitere Kostenlose Bücher