Isis
gibt. Als ob er sich im nächsten Moment auf sie stürzen würde, um sie zu erwürgen.« Er presste die Hände um einen imaginären Hals und verdrehte die Augen.
»Das bildest du dir bestimmt nur ein.«
»Ach, und dass sie ständig mit diesem Iucha herumzuflüstern hat, das bilde ich mir wohl auch nur ein? Wenn ich diesen Glatzkopf schon sehe, wird mir speiübel! Ich wette, der schreibt alles haarklein auf, was wir anstellen. Bestimmt auch, dass ich gestern am Gartenhaus war, um zu probieren, ob die Türe nicht doch aufzukriegen ist. Leider hat er mich dabei erwischt. Ja, ja, ich weiß schon, ich darf nicht, ich soll nicht .« Khay schnitt eine Grimasse. »Bestimmt petzt er es gerade der Ama. Und wenn die es Vater petzt, wissen wir beide, was passiert!«
Anu schob unruhig die Haut an seinem mageren Knie auf und ab. Er hatte neue Striemen auf den Armen und einen Bluterguss am linken Auge. In einem unbeobachteten Moment schob er den Daumen in den Mund und begann daran zu nuckeln wie ein Säugling.
Khay schlug ihm mit einem leichten Klaps die Hand aus dem Gesicht.
»Nachdem er mich gesehen hat, kann ich ja schlecht behaupten, dass ich das nicht gewesen bin.«
Er hatte gelernt, Prügel für seinen Bruder einzustecken. Dazu gehörte auch, sich für Missetaten zu bekennen, die er niemals begangen hatte. Inzwischen lebte er ganz gut mit diesen und anderen Lügen, für die er sich früher geschämt hätte. Mittlerweile gingen sie ihm mühelos über die Lippen, als schlummere ein großes Talent in ihm. Alles noch besser als jener schale Geruch aus Angst und Verlassenheit, der ihm in die Nase stieg, wenn Anu zu ihm ins Bett gekrochen kam, weil er sich vor dem Vater fürchtete. Er klammerte sich dann unweigerlich an Khay, bis der kaum noch Luft bekam und sich so bedrängt fühlte, dass er den Bruder viel zu grob wegstieß. Mit dem Resultat, dass Anu sich sogar im Schlaf zum Trost den Daumen in den Mund steckte.
Khay hasste jenen Moment, bevor seines Vaters Zorn sich auf Anu oder ihn entlud. Und das Ausmaß dieser Wut, für die er bislang keine Erklärung gefunden hatte, machte ihm Angst. Aber er hatte eine spezielle Methode entwickelt, mit dem körperlichen Schmerz umzugehen. Dann spürte er zwar die Schläge, aber sie erreichten ihn nicht mehr. Sie taten weh, aber er konnte sie ebenso schnell wieder vergessen. Er hatte dicke Mauern um sein Herz gezogen und hielt sein Inneres sorgfältig verschlossen. Wenn er niemanden liebte, konnte ihm auch niemand zu nahe treten, das hatte er inzwischen herausgefunden.
Mit einer Ausnahme — Isis.
Manchmal wollte ihm schier das Herz bersten, so wichtig war sie ihm. Er wollte, dass sie ihn mutig fand, stark und groß. Er wollte, dass sie zu ihm aufsah und ihn bewunderte.
Alles, auch jede Verrücktheit, hätte er dafür getan, wenngleich er sich nach außen hin ihr gegenüber besonders ruppig verhielt, damit sie bloß nicht bemerkte, wie es wirklich um ihn stand.
»Glaubst du, es wäre anders, wenn wir Mädchen wären?«, fragte Anu zu seiner Verblüffung, als habe er seine Gedanken erraten. »Meinst du, Vater würde Isis auch so wehtun?«
Beide dachten an die fremden, stark parfümierten Frauen, die manchmal im Morgengrauen das Gartenhaus verließen, manchmal mit Kratzern auf Armen und Schenkeln. Stets war es Iucha, der ihnen das Tor öffnete. Und er sorgte auch dafür, dass sie längst verschwunden waren, sobald Re sich am Himmel zeigte und die Nachbarn wach wurden.
»Ich weiß es nicht«, sagte Khay unschlüssig, weil ihm der Gedanke fürchterlich erschien. »Isis vielleicht nicht.«
»Und Mama?«
»Mama ist tot, du kleiner Idiot«, sagte Khay barsch.
Schon das Wort genügte, damit er sich ganz klamm fühlte. Er hatte sich selbst verboten, an sie zu denken. Aber wenn er einmal nicht aufpasste und seine Erinnerungen sich aus Versehen doch in diese Richtung verirrten, bekam er einen scheußlichen Geschmack im Mund. Außerdem begann sein Herz so wild zu klopfen, als wolle es aus seiner Brust springen.
»Das weiß ich doch«, sagte Anu leise. »Aber meinst du, er hat sie ...«
»Du fragst zu viel, Kleiner«, sagte Khay und knuffte Anu so fest in die magere Brust, dass er zusammenfuhr. »Ein guter Rat von mir, und ich weiß, wovon ich rede: Wenn du weniger fragst, fängst du auch weniger Prügel ein, so einfach ist das!«
oooo
Inzwischen war Basas Anblick in Nezems häuslicher Werkstatt nichts Ungewöhnliches mehr. Selenes Zurückhaltung begann einer etwas
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