Isländisch Roulette: Thriller (German Edition)
versagt gleich ihren Dienst. Er läuft weiter vorwärts, doch er verliert das Gleichgewicht und schlägt hin in den Splitt. Die Box aber verliert er nicht. Den Schlüssel zu einem anderen, einem besseren Leben. Die letzten Meter zur Gärtnerei schleppt er sich irgendwie dahin, mit blutigen Händen und zerrissenen Hosen. Arvydas weiß, dassJósteinn selbst nicht der Genaueste ist, wenn es um Zeit geht.
Er umfasst das Messer in der Hosentasche, bereit, falls etwas Unvorhergesehenes passieren sollte. Endlich sieht er Jósteinn in einem schwarzen Cadillac-Jeep, er rast in die Schotterstraße und bremst scharf vor ihm. Arvydas ist erleichtert. Jósteinn steigt aus dem Auto, eine Sporttasche in der Hand. Sie begrüßen sich kameradschaftlich, doch sie haben beide kein besonderes Interesse daran, länger an diesem Ort zu verweilen.
»Hier ist die Box. Hast du das Geld?«, fragt Arvydas.
Jósteinn wirft ihm die Tasche zu.
»Es ist alles da drin. Sechzigtausend Euro.«
Arvydas öffnet die Tasche. Es ist kein Scherz. Bund über Bund mit Hunderteuroscheinen.
»Muss ich das nachzählen?«, fragt er und sieht direkt in Jósteinns Augen.
»Das musst du selbst entscheiden. Die Box bitte!«
Arvydas übergibt ihm den blauen Behälter.
Jósteinn öffnet ihn. Der Daumen ist an seinem Platz.
»Verdammt, ist das ekelhaft«, murmelt Jósteinn und schüttelt den Kopf, als er das blutige Stück Fleisch erblickt. »Na gut. Wiedersehen Alter, und mach's gut.«
Sie geben sich die Hand und wissen beide, dass sich hier und jetzt ihre Wege für immer trennen. Sie werden sich nie wiedersehen.
Jósteinn steigt in den Wagen und braust davon.
Arvydas wirft sich die Tasche über die Schulter und schlendert nach Hause. Er hat sich in seinem Körper schon besser gefühlt, aber das Geld in der Tasche betäubt den Schmerz. Als er nach Hause kommt, geht er als Erstes zum Küchentisch. Er öffnet die Tasche und nimmt eine große, durchsichtige Plastiktüte voller Geld heraus. Er schüttet sie aus. Die Geldbündel türmen sich auf dem Tisch. Er zählt sie und ordnet sie zu Reihen. Es sind sechzig Stück.
Er zieht die schweißgetränkten, blutigen und zerrissenen Sachen aus und nimmt eine Dusche. Sein Gesicht zieht sich zusammen, als das heiße Wasser über die Schürfwunde am Knie läuft. No pain, no gain. Er trocknet sich ab, geht in die Küche, packt das Geld wieder in die Tüte und steckt es in die Tasche. Arvydas schleudert die Tasche unters Bett und legt sich darauf. Er sieht in die Luft und denkt an das Geld.
Er muss an seinen Bruder Simon in Brasilien denken. Jetzt kann er endlich zu ihm reisen. Die Brüder waren unzertrennlich gewesen, bevor Arvydas im Gefängnis landete. Nun können sie wieder zusammen sein. Nie wieder wird er hierher, an diesen beschissenen Ort zurückkehren.
Kurz darauf schläft er mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
Reykjavík, Sonntag, 16. Mai 2010
Zur selben Zeit schreitet ein Mann in einem Einfamilienhaus im Stadtviertel Þingholt auf und ab und sieht unaufhörlich auf die Uhr. Er ist nicht sehr groß, eher untersetzt und trägt langes blondes Haar. Die Dielen knarren unter den Absätzen seiner schwarzen Gucci-Schuhe aus Krokodilleder. Er liebt diese Schuhe. Sie passen ausgezeichnet zu dem schwarzen Versace-Anzug, den er von Donatella persönlich auf einer Modenschau in New York vor ungefähr einem Jahr bezog. Verdammt, braucht er lange dafür, denkt er. Er ist erleichtert, als er den Cadillac vor dem Gartentor vorfahren sieht. Er sieht sich um. Der schwarze Lederrucksack ist bereit. Reisepass und Laptop darin. Das Mobiltelefon summt auf dem Tisch. Er sieht auf das Display. Sendet der Volltrottel ihm jetzt allen Ernstes eine SMS?
Bin da.
»Das sehe ich, du Depp«, knurrt er.
Er geht hinaus.
»Sei gegrüßt, alter Freund«, sagt Jósteinn Friðbertsson beschwingt. »Verdammt, bist du edel angezogen. Diese Krokoschuhe gefallen mir. Wo hast du die denn her?«
»Ist alles klar?«, fragt der Mann trocken.
»Jepp! Hier ist die Box«, sagt Jósteinn.
Er nimmt die Box entgegen und steckt sie in die violette Innentasche des Anzugs. Verdammt, ist das ekelhaft, denkt er, den Daumen eines Toten bei sich zu tragen. »Ich lass dir vierzig Riesen zukommen diese Woche«, sagt er dann jäh. »Du bekommst sie in Scheinen.« Dann setzt er sich in einen weißen Range Rover und fährt davon.
Jósteinn strahlt über das ganze Gesicht. Das war sicherlich der leichteste Auftrag, den er je ausgeführt hat. Er hatte
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