Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
die Neoprenstiefel abzustreifen – und um zu verbergen, dass ich rot angelaufen war. Ich musste improvisieren, um meinen Schnitzer zu vertuschen. »An den Steinsäulen … damals bei unserer Ankunft … fragte ich mich, wie weit es von hier zum Festland sein könnte.«
Ich richtete mich auf und warf die Stiefel in den Laderaum des Vans. Ronan blickte mich skeptisch an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich finde es irgendwie cool, mit einem Typen wie ihm eine Reise anzutreten. Wusstest du, dass er Descartes kannte?«
Er schlang sich sein Handtuch über eine Schulter und verschränkte die Arme vor der Brust. Das brachte seinen muskulösen Oberkörper besonders gut zur Geltung. »Nimm dich vor Hugo de Rosas Alcántara in Acht.«
»Willst du damit sagen, dass ich nicht zu diesem Wettkampf antreten soll?«
»Ganz und gar nicht. Die Mädchen, die nicht an der Ausscheidung teilnehmen, sind dumm. Sie werden das erste Jahr nicht überleben.« Er schien zu zögern und seine Worte genau abzuwägen, bevor er mit leiser Stimme weitersprach. »Du musst wissen, dass jede Entscheidung, die du triffst, Teil deiner Prüfungen auf dieser Insel ist. Du musst diesen Wettbewerb mitmachen. Aber du musst auch Distanz wahren, Annelise. Alcántara ist ein Vampir, jahrhundertealt und von anderen Moralvorstellungen geprägt als du. Betrachte dich als Profi. Denn genau das sollst du eines Tages sein. Nicht eine Favoritin, ein Objekt der Begierde oder ein Spielzeug für Master Alcántara. Lass nicht zu, dass er Besitz von dir ergreift.«
Ich war wie betäubt von seiner kleinen Ansprache. »Aber er ist doch einer von ihnen. Von den wichtigen Vampiren hier, meine ich. Ich kann mich nicht einfach von ihm fernhalten .«
»Nein, das kannst du nicht.« Ronan drehte die Arme nach hinten, um den Rücken-Klettverschluss seines Taucheranzugs zu lösen. Ich starrte ihm unverwandt ins Gesicht. »Aber du kannst höflich und zurückhaltend zugleich sein. Antworte nur, wenn er dich anspricht. Meide Blickkontakte, die er falsch auslegen könnte.« Er unterbrach sich und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Blickkontakte wie diesen hier.«
Ich lachte, ein wenig aus der Fassung gebracht, und entlockte auch Ronan ein gequältes Lächeln. »Ich meine es ernst, Annelise. Hier geht es um Leben oder Tod.«
Ich war noch nicht zum Sterben bereit. Aber das hieß, dass ich zum Töten bereit sein musste. Ich hegte den Verdacht, dass es bei dem Semesterwettbewerb des Direktorats weniger darum ging, die Rivalinnen zu besiegen, als sie zu eliminieren.
Ronan hatte den Klettverschluss seines Neoprenanzugs geöffnet und begann aus den Ärmeln zu schlüpfen. Sein Tattoo hob sich dunkel von der blassen, feuchten Haut ab. Le seul paradis c’est le paradis perdu.
Mir war nicht bewusst, dass ich den Schriftzug unverwandt anstarrte und über seine Bedeutung nachdachte. »Was hast du verloren?«, fragte ich leise.
Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke. »Dreh dich um, Annelise, und gönne mir wenigstens einen Hauch von Privatsphäre.« Das klang nicht ärgerlich, nur müde.
Ich begab mich nach vorn, schälte mich ebenfalls aus dem Taucherzeug und streifte Sweatshirt und Trainingshose über den feuchten Badeanzug, den ich darunter trug. Dann kletterte ich auf den Beifahrersitz.
Ronan schlug die hinteren Türen zu, ging um den Van herum und klemmte sich hinter das Steuer. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn aber nicht herum, sondern saß einfach da und starrte das Lenkrad an.
Schließlich sagte er: »Ich habe viele Dinge verloren. Viele Menschen. Vielleicht entdeckst du eines Tages, dass das Leben auf dieser Insel nicht das ist, was es zu sein scheint.«
Während ich sein Profil betrachtete, überlegte ich krampfhaft, was er mit seinen Worten meinte. »Warum bleibst du dann?«
»Ich bin hier geboren.«
Ein einfacher Satz – und doch keine Antwort. Etwas hielt ihn auf der Insel fest. Etwas, das mehr wog als Gewohnheit oder Heimat. Ich konnte das in seinen grünen, von Trauer erfüllten Augen lesen. Aber er wollte nicht darüber sprechen.
Ich änderte meinen Kurs. Ich spürte, dass mich etwas mit Ronan verband – das war von Anfang an so gewesen, unabhängig von seinen Überredungskünsten, die mich in diesen Schlamassel gebracht hatten. »Warum tust du das alles? Es ist weit mehr, als du für eine Schutzbefohlene tun müsstest. Warum bist du so nett zu mir?«
Er sah mich an, so düster und verzweifelt, dass ich ihm am liebsten
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