Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
mir auch noch den Rest verraten kannst.«
»Du verlangst eine ganze Menge, Annelise.« Er sah mich mit versteinerter Miene an. »Die Weitergabe vertraulicher Informationen verstößt gegen das Inselgesetz. Das kann mich den Kopf kosten.«
»Ich verstehe.« Mein Herz fühlte sich an wie ein schwerer Stein. Welches furchtbare Geheimnis schleppte Lilou mit sich herum? »Bitte, Ronan! Sag mir die Wahrheit! Was ist ihre besondere Begabung?«
Er umklammerte das Lenkrad, bis seine Knöchel weiß hervortraten. »Schmerz.«
»Sie versteht sich darauf, anderen wehzutun?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie spürt keinen Schmerz.«
Ich hätte nie geglaubt, dass ich die Schlampe einmal beneiden würde, aber am dritten Tag des Wettbewerbs hätte ich alles darum gegeben, keine Schmerzen zu spüren. Ich war noch nie im Leben so kaputt gewesen, nicht mal in den ersten Wochen meines Trainings.
Zum Glück war heute der letzte Tag. Ich schickte ein Dankgebet zum Himmel, denn auf so hohem Niveau konnte ich nicht mehr lange weiterkämpfen, nicht einmal mit dem Blut, das ich zur Stärkung trank.
Natürlich hatten sie keinen Moment in Betracht gezogen, den Wettbewerb an einem so gewöhnlichen Ort wie der Turnhalle abzuhalten. Stattdessen trugen wir Mädels unsere Gefechte auf der mächtigen Felsplatte im Zentrum der Steinsäulen aus.
Die Zweikämpfe fanden vom Morgen bis zum Abend statt, wobei die jeweiligen Siegerinnen in die nächste Ausscheidungsrunde vorrückten. Und natürlich hatten sich auf dem Rasenplatz vor den Steinsäulen jede Menge Zuschauer versammelt – Vampire, Eingeweihte, Acari, Sucher und Vampiranwärter.
Alle warteten auf den Beginn der Halbfinalkämpfe. Auf den Beginn meines Kampfs.
Ich streckte die Arme nach vorn und versuchte meinen steifen Rücken zu lockern. Ich war so verkrampft, dass ich befürchtete, die eine oder andere Muskelfaser könnte reißen. Ein tiefes Unbehagen hatte mich erfasst und verstärkte meine Nervosität. »Diese Vampire … lieben hochdramatische Ereignisse. Ich denke, sie werden voll auf ihre Kosten kommen.«
»Was?« Emma legte eine Hand an ihr Ohr, um anzudeuten, dass meine Worte im Lärm des Publikums untergegangen waren.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wichtig.« Yasuo war bei uns, und es beruhigte mich, den großen, starken Freund an meiner Seite zu wissen. Er tippte vorsichtig mein rechtes Ohrläppchen an. »Mann, D, wie hast du es bloß geschafft, dich am Ohr zu verletzen?«
Ich zuckte bei der leichten Berührung zusammen. Auf einer Matte im Ring in die Unterlage zu geraten, war eine ganz andere Sache, als gegen eine gigantische Granitplatte gepresst zu werden. »Ach, der blöde Steinsockel!«
Emma beugte sich zu mir herunter. »Du bist gleich dran.«
»Danke fürs Aufwecken!« Ich versuchte es erfolglos mit einem sarkastischen Lächeln.
»Wie du die beiden ersten Mädels abserviert hast – das war endkrass.« Yasuo starrte versonnen in die Ferne.
Ich folgte seinem Blick und entdeckte Lilou. Sie rauschte durch die Menge, gefolgt von einer Schar Bewunderer, die an das Kielwasser einer Luxusjacht erinnerten.
Josh befand sich unter ihnen, und ich ertappte ihn dabei, wie er wegschaute, bevor sich unsere Blicke trafen. Egal.
»Mir tut das Mädchen leid, das im Semi gegen sie antreten muss«, fügte Yas hinzu.
Ich nickte. Lilou galt als sichere Kandidatin für das Finale. »Antje ist ihre Gegnerin.« Wir waren nur noch zu viert, und ich war verblüfft, dass mich die Vampire gegen eine von Lilous Wasserträgerinnen kämpfen ließen anstatt gegen meine Nemesis selbst. Unsere Feindschaft musste sich längst herumgesprochen haben. Ronans kleine Rede hatte mir bewusst gemacht, welche Aufmerksamkeit die Vampire dem Kommen und Gehen der Acari schenkten. Es war wohl eine Möglichkeit, der Langeweile eines ewigen Lebens zu entrinnen. »Wunder über Wunder. Eigentlich hatte ich mit der Ehre gerechnet.«
»Wie dem auch sei – wir müssen dich vorbereiten.« Er schaute Emma an. »Hast du das Klebeband mitgebracht?«
Sie nickte und holte eine Rolle weißes Tapeband aus ihrer Tasche. Ich streckte ihnen beide Hände entgegen.
Emma berührte meinen linken kleinen Finger, und ich stöhnte. »Aua.«
»Sieht böse aus«, meinte sie nach einer kurzen Untersuchung. Der Finger war blaurot angelaufen und stand unnatürlich von meiner Hand ab.
»Eine ungeschickte Landung.« Ich ertastete einen Wulst, und obwohl meine Verletzungen im Allgemeinen schnell verheilten, konnte sich der Spalt
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