Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
der Phänomenologie-Bibliothek auf. Ich hatte mich in einen mächtigen Ledersessel gekuschelt und starrte in den grauen Regen vor dem Fenster. Die Tage flossen ineinander, und ich hatte das Gefühl, dass ich nie mehr in der Lage sein würde, ein normales Leben zu führen. So war das eben, wenn man unbeabsichtigt eine Kommilitonin umbrachte.
Ich rieb gedankenverloren an den Narben herum, die sich unter meinen Leggings verbargen. Sie juckten wie verrückt, aber das ging in Ordnung. Ich empfand das als eine Art gerechte Strafe für den Tod von Idaho-Claire.
Die Schnitte hatten sich erschreckend schnell geschlossen, wohl eine Nebenwirkung des Vampirbluts, das wir immer noch in großen Mengen vorgesetzt bekamen. Amanda war erfreut und mehr als erstaunt gewesen, wie gut und schnell die Wunden verheilten. Offensichtlich verhalf mir das Blut zu einer überaus robusten Konstitution. Klasse. Hieß das aber, dass ich nicht mehr durch und durch Mensch war?
Ich rutschte tiefer in den Sessel. Mehr denn je sehnte ich mich nach meinem iPod. Zu meiner Stimmung hätte jetzt ein klassisches Klavierkonzert gepasst. Das oder Metallica.
»Wo bleibst du nur? Es ist höchste Zeit, mit dem Schwimmen weiterzumachen.«
Ronan stand im Eingang. Nicht einmal der Anblick seines harten Bizeps unter den Ärmeln eines feuchten, eng anliegenden T -Shirts konnte mich aufmuntern. Eher das Gegenteil. Ich musste mir abgewöhnen, ihn auf diese Weise zu betrachten. Mir wurde mulmig bei dem Gedanken, dass Master Alcántara meine Vorliebe für Ronan irgendwann bemerken könnte.
Ich riss meine Blicke von seinem Hemd los. »Du meine Güte, Ronan, hast du keine Angst, dich zu erkälten?«
»Es ist Mai.« Er betrat die Bibliothek und fuhr sich mit den Fingern durch das nasse Haar, um es aus der Stirn zu streichen.
Der Vorfall mit meinem iPod lag nun eine ganze Weile zurück, und allmählich normalisierte sich unser Verhältnis – was immer das heißen mochte. Aber ein Menschenleben hatte wenig Wert auf dieser Insel. Deshalb war es wichtig, emotionalen Abstand zu wahren. Und das wiederum hieß, dass ich endlich aufhören musste, ihn mit Röntgenaugen anzustarren. Ich wandte mich ab und schaute wieder aus dem Fenster. »Ich glaube, mehr als sieben Grad Celsius hatte es in letzter Zeit nicht.«
Es schüttete wie aus Kübeln. Das ging schon die ganze Woche so und machte meine Laune nicht unbedingt besser. Obwohl die Sonne sehr viel später unterging als bei unserer Ankunft – gut nach neun Uhr abends – herrschte nie strahlende Helligkeit. Fahle und dunklere Grautöne wechselten sich einfach ab. »Wenn das dein Zwielicht ist, dann kann ich nur sagen, dass es nervt.«
Ronan achtete kaum auf meine Worte, sondern warf einen Blick auf den Boden neben meinem Sessel. Außer meiner Tasche, einem kleinen Bücherstapel und den Stiefeln, die ich von den Füßen geschleudert hatte, war nichts zu sehen. »Wo ist dein Taucheranzug?«
»Aber es gießt doch!«
»Na super, dann macht dir das Wasser nicht mehr viel aus.« Er begann die Bücher vom Boden aufzusammeln und zurück in die Regale zu stellen. »Der Wettbewerb findet in einer Woche statt. Du musst vorbereitet sein.«
»Wozu muss ich überhaupt trainieren?« Ich warf den Kopf gegen die Sessellehne und starrte ihn düster an. »Allem Anschein nach besitze ich ein echtes Talent dafür, die Mädels reihenweise abzumurksen.«
»Du hast deinen Zweikampf gewonnen«, fauchte er. Ronan wusste natürlich, was mich bedrückte. Seit Claires Tod war ich total down, und ich spürte, dass ihm meine miese Laune allmählich reichte. »Wäre es dir lieber gewesen, sie hätte dich getötet?«
»Natürlich nicht.« Ich funkelte ihn wütend an. »Tut mir leid, aber ich muss mich erst daran gewöhnen, dass das Abschlachten von Kommilitonen hier zum Lehrplan gehört.«
»Das ist nun mal so. Mach dich damit vertraut.«
»Aber es war doch nur ein Trainingskampf«, widersprach ich. Ich hatte es satt, ständig angeblafft zu werden. »Und jemand vertauschte die Klingen. Müsste das nicht wenigstens untersucht werden? Und Konsequenzen haben? So was wie Arrest – oder mehr?«
Ich brauchte keine Fingerabdrücke zum Nachweis dafür, wer hinter diesem Anschlag steckte. Lilou. Mich wunderte allerdings, dass sie für ihre Rache eine Stellvertreterin bemüht hatte, anstatt mich eigenhändig plattzumachen.
Ronan zuckte mit den Achseln. »Um die Wahrheit zu sagen – die Eingeweihten fanden das Vertauschen der Dolche eine clevere
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