Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
sich, und ich sah mich erneut unauffällig nach Kotztüten um.
»Unser Bordgetränk«, sagte Ronan knapp.
Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen. Ich musterte das Glas. »Und es hat vermutlich wenig Sinn, um einen Schluck Champagner oder so was zu bitten?«
»Trink und frag nicht.« Ronan kippte seinen Drink in einem Zug.
Ich zwang mich, seinem Beispiel zu folgen. Der zähe Saft rann durch meine Kehle wie eiskalter Hustensirup. Ich schüttelte mich.
Aber gleich darauf passierte etwas Komisches. Eine Art Rausch erfasste mich. Ich spürte einen Kick, der meine Schenkel hochjagte, in die Wirbelsäule schoss und bis in die Fingerspitzen prickelte. Irgendein unheimliches Wikinger-Gebräu? Was immer es war, ich fühlte mich mit einem Mal durch und durch lebendig. Als könnte ich plötzlich tiefer atmen, strömten von allen Seiten neue Gerüche auf mich ein.
Aus den grässlichen, von Lilous spitzen Schreien untermalten Würgegeräuschen im Heck folgerte ich, dass der Willkommenstrunk auf Mimi eine andere Wirkung hatte als auf mich.
Ronan stand auf und sah wortlos zu, wie die Flugbegleiterin Mimi ein feuchtes Handtuch reichte. Offenbar hatte sich ihre Übelkeit rechtzeitig angekündigt, denn sie steckte bis zum Kinn in einer weißen Kotztüte. Also hatten sie die Dinger doch irgendwo an Bord versteckt.
Ronan war so damit beschäftigt, Mimi zu beobachten, dass er meinen forschenden Blick überhaupt nicht bemerkte. Seine Miene verriet eine Spur von Ärger, aber dann besann er sich eines Besseren und begann beruhigend auf sie einzureden. »Ist ja gut, Mädel, ist ja gut!«
Mimi hob den Kopf und wischte sich das Kinn mit dem Handtuch ab. Sie spuckte einen letzten Schwall in die Tüte. »In Kuba trinkt kein Mensch eine solche mierda «, fauchte sie. Sie betonte das Wort Kuba , als würde man es mit mindestens drei U schreiben.
Ich war drauf und dran, einen bösen Kommentar loszulassen, doch dann kam mir ein besserer Gedanke: Im Moment waren alle abgelenkt. Ich bekam vermutlich nie mehr eine so gute Gelegenheit, mein Foto und meinen iPod in Sicherheit zu bringen.
Außerdem kribbelten meine Gliedmaßen wie verrückt. Ich musste einfach handeln. Ich spürte jede einzelne Zelle in meinem Körper. Es war, als befände sich eine große Erleuchtung in meiner Reichweite. Ich musste mich nur bewegen. Ich fühlte mich stark, mutig und zu großen Dingen fähig.
»Ich ziehe mich jetzt mal um«, sagte ich, packte ein paar graue Kleidungsstücke und schob mich an Ronan vorbei, ohne abzuwarten, ob er meinen Entschluss gut fand oder nicht.
Den zusammengeballten Kapuzenpulli fest an meinen Bauch gepresst, stahl ich mich in die Toilette. Ich hoffte nur, dass der graue Stapel in meinen Armen eine einigermaßen vollständige Ausrüstung ergab. Sobald ich den Riegel vorgeschoben hatte, begann ich meine Sachen abzulegen, Hut, T -Shirt, Jeans, Socken, alles. Einen Moment überkam mich ein ungutes Gefühl, als ich barfuß in der Kabine stand – ich hatte die Uniformstiefel neben meinem Platz vergessen –, aber das legte sich nach einem Blick auf die makellosen Bodenfliesen. Die Bordtoilette präsentierte sich sauberer, als es unser Klo daheim je gewesen war.
An die Wand gelehnt, zog ich die Leggings hoch, so gut sich das in dem engen Raum bewerkstelligen ließ. Ich fuhr mit den Händen über die Hüften und glättete das Material. Es war dunkelgrau und weich, aber zugleich dick und robust. Eine Art Stützgewebe, nicht nur Naturfaser, aber auch nicht rein synthetisch.
Dann breitete ich mit einem leisen Hm das Oberteil aus. Es hatte ein helleres Grau als die Leggings und fühlte sich wie Wolle an. Ich streifte es über den Kopf und schlüpfte mühsam in die Ärmel, wobei ich mir in der engen Toilette mehr als einmal die Ellbogen anschlug. Aber als ich das Ding endlich anhatte, passte es wie angegossen. Es hatte einen viereckigen Ausschnitt, reichte mir bis knapp über die Knie und war wie ein indischer Kamiz an beiden Seiten bis zur Hüfte geschlitzt.
Ich ging ein paarmal in die Hocke und schwang dann die Beine hoch, um die Bewegungsfreiheit zu testen. Die Sachen waren warm, ohne mich zum Schwitzen zu bringen, und kratzten überhaupt nicht. Ich entdeckte nirgends ein Etikett oder Marken-Logo, aber die Qualität der neuen Ausrüstung sprach für sich, und sie schien mir auf den Leib geschneidert zu sein.
Der Kapuzenpulli lag immer noch zusammengeknüllt auf dem Waschtisch. Als ich meinen iPod und das Foto aus der Tasche holte, hörte ich
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