Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
Hügelkuppe ab. Das aus grauen, grob behauenen Quadern errichtete Bauwerk erhob sich schroff aus einer gepflegten, unter einer dünnen Schneedecke verborgenen Gartenanlage. Der trockene, pulverfeine Schnee ließ alles zerbrechlich und in der Zeit erstarrt erscheinen. Ein Schauder erfasste mich.
Wir hatten am Rand eines Innenhofs geparkt, in dem eine größere Menschenmenge versammelt war. Obwohl das bei all den Leuten schwer zu erkennen war, schien es sich um einen Rundhof mit einer kleinen Vertiefung in der Mitte zu handeln. Eine Gruppe aufrecht stehender Steine bildete einen Halbmond am fernen Ende des Kreises, mit einer gigantischen Granit-Plattform in der Mitte, die so aussah, als wartete sie nur auf Menschenopfer.
Als ich das Gedränge und die auf Stonehenge getrimmten Steinsäulen sah, schrillten die Alarmglocken, die der Anblick von Lilou und Mimi bei mir ausgelöst hatte, erneut los. Ich merkte, dass der Kick, den mir die »Erfrischung« an Bord verschafft hatte, im Abklingen war. Noch ein Schluck von dem Gebräu hätte mir gutgetan. Das Zeug war Mut pur in Flüssigform.
Wir stiegen aus und begaben uns auf Ronans Drängen zu den Ausläufern der Menschenmenge. Ich schätze, dass es insgesamt an die hundert Leute waren. Ohne auf mein Unbehagen zu achten, mischte ich mich unter das Volk. Ich brauchte einen gewissen Abstand von Lilou und Mimi, entfernte mich aber für den Fall, dass ich in Schwierigkeiten kam, nicht allzu weit von Ronan. Ich hatte zwar keine konkrete Vorstellung, welcher Art diese Schwierigkeiten sein mochten, aber bei Menschenmengen neigte ich grundsätzlich zu erhöhter Vorsicht.
Unvermittelt drang von allen Seiten Geschnatter auf mich ein. Es waren weibliche Stimmen, die meisten mit britischem Akzent, aber ich hörte auch amerikanische und hier und da einige ausländische Gesprächsfetzen.
Irgendwo war eine französische Unterhaltung im Gang. Ich schloss die Augen und ließ die vertrauten temperamentvollen Klänge auf mich einwirken. Vielleicht war diese Insel doch nicht ganz so schlimm, wie ich befürchtet hatte.
Aber dann dämmerte mir die Wahrheit. Ich machte die Augen wieder auf und ließ meinen Blick über die Menge wandern. Mädchen … nur Mädchen. Ein Meer von Mädchen. Manche hatten ihre marineblauen Parkas ausgezogen und über den Arm gehängt. Alle trugen Leggings und graue Oberteile. Und sie sahen alle, aber auch wirklich alle, blendend aus.
Ich runzelte die Stirn. Wie konnte Ronan glauben, dass ich je zu all diesen ausgemusterten Top Models passen würde? Ich konnte nicht anders, ich musste meine Vergleiche ziehen. Obwohl ich keineswegs hässlich war, entsprach ich definitiv nicht dem klassischen Schönheitsideal. Was mich besonders störte, waren meine riesigen Augen, die mir irgendwie einen starren Insektenblick verliehen. Und als würde das noch nicht reichen, hatte ich einen viel zu breiten Mund. Leider wartete ich immer noch vergeblich darauf, dass mal ein Märchenprinz den Spieß umdrehte, das Froschmaul küsste und mich in eine wunderschöne Prinzessin verwandelte.
Dann war da noch mein Haar, lang und hellblond und dadurch für meinen Geschmack etwas zu auffällig – in Florida aber immer noch die bessere Tarnung. Das hatte ich schon mit zwölf auf die harte Tour erfahren müssen, als ich entdeckte, dass nicht alle Mädchen mit kahl geschorenem Kopf so umwerfend daherkamen wie Natalie Portman. Zugegeben, ich hatte ein paar kurze Stoppeln stehen gelassen, aber bei meiner Haarfarbe wirkte das praktisch kahl. Ich fand, dass ich mit der neuen Frisur wie eine Schwedin aussah. Nicht so mein allerbester Daddy. Er fand, dass ich wie eine Lesbe aussah, und untermauerte seine Meinung mit einem Fausthieb, der meine Lippe platzen ließ.
Auf diese Weise sicherte ich mir die entsetzte Faszination aller Korallenlippenstift-Mamis meiner Schule. Da mir jedoch wenig an Aufsehen gelegen war, hatte ich seither höchstens die Spitzen geschnitten.
Die Erinnerung schmerzte, und ich zog den Kopf zwischen die Schultern, als könnte ich auf diese Weise in der Menge untertauchen. Ein Gemisch aus Faszination und Entsetzen erfasste mich, je tiefer ich in das Gewühl vordrang. Das hier war Highschool pur. Ronan hatte mich der Obskurität entrissen und in eine surreale Highschool verpflanzt, die aus einem meiner Albträume zu stammen schien. Zu allem Überfluss war es eine Mädchenschule.
Bereits jetzt bildeten sich die ersten Cliquen. Gleich gesellte sich zu gleich. Mädels mit stumpfem
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