Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
nachdenklich an. »Aber du warst schon nah dran.«
Ich zuckte mit den Achseln. Wenn man die Begriffe analysierte und in ihre Wortstämme aufspaltete, tat man sich einigermaßen leicht. »Ich habe ein Gespür für germanische Sprachen.«
»Aye.« Geistesabwesend starrte er an mir vorbei aus dem Fenster, obwohl es außer einer schwarzen Ebene und den beiden roten Blinklichtern an der Tragfläche nichts zu sehen gab. »Das wussten wir.«
» Wir, wir … wer sind diese wir, von denen du dauernd sprichst?«
Er starrte weiter in die Schwärze. Seine Miene wirkte sehr ernst. »Das wirst du bald genug erfahren.«
Ich war entschlossen, ihm ein paar deutlichere Hinweise zu entlocken, noch bevor wir landeten. Also schlug ich einen anderen Kurs ein. »Aber dein Akzent klingt schottisch. Wenn Isländisch die alte Sprache ist, nun, dann müssen deine Vorfahren echt alt aussehen.« Das war als Scherz gemeint, aber er runzelte nur die Stirn.
Schließlich wandte er sich wieder mir zu. »Viele unserer … Alten … verstehen die Sprache der Wikinger. Wir haben eine hohe Achtung vor ihrer Kultur. Deshalb bewahrt die Insel viele ihrer Traditionen.«
Ich ließ nicht locker, obwohl ich sehr wohl merkte, dass sein Ernst allmählich in Unmut überging. »Dann bist du …«
»Was soll das?«, unterbrach uns eine schrille Stimme von hinten, die ich Lilou von Schnepfe, alias Bunny, zuordnete. »Ich denke nicht daran, meine Murakami-Tasche gegen dieses Zeugs hier einzutauschen!«
»Was auch immer Origami-Tasche zu bedeuten hat«, murmelte ich.
»Schon klar, dass du mit Louis Vuitton nichts anfangen kannst, Unterschicht. So was verscherbeln sie nicht auf Flohmärkten und Wohlfahrtsbasars.«
Ich zuckte zusammen. Vielleicht war Lilous besonderes Talent, dass sie Ohren wie ein Luchs besaß. Ich begann mich dem zwischen meine Knie geklemmten Seesack zu widmen, um zu ergründen, was Miss College so in Rage versetzt hatte.
Er war vollgestopft mit Kleidung. Ganz oben auf dem Stapel entdeckte ich ein strapazierfähiges Oberteil und so etwas wie Leggings.
»Das ist die Standard-Ausrüstung, die alle Rekruten im ersten Ausbildungsjahr erhalten«, erklärte Ronan.
Rekruten? Das merkwürdige Wort blieb mir im Gedächtnis haften. Aber ich verdrängte es in meiner Dankbarkeit, dass Fräulein von Schnepfe mich nun nicht mehr mit ihrer Unterschicht-Masche niederbügeln konnte. Uniformen – die großen Gleichmacher der Gesellschaft.
»Coole Stiefel.« Ich zerrte ein Paar schwarze, kniehohe Stiefel aus den Tiefen des Seesacks. Sie waren vorne geschnürt und mit einer Art Kurzhaar-Fell gefüttert. Total schicke Eskimo-Mukluks.
Ronan nickte. »Ihr bekommt außerdem Trainingsanzüge und einen Satz robuster Ölhäute.«
»Tierhäute – igitt!«
Lilous Einwurf war so bescheuert, dass ich mich mit einem Grinsen nach ihr umdrehte. Vielleicht sollte irgendwer Miss Blaublut stecken, dass ihre feinen Lederstiefeletten auch einmal einer unschuldigen Kreatur als Haut gedient hatten.
Ronan runzelte die Stirn, doch dann begriff er, was sie meinte. »Ach so. Eure Ölhäute sind keine echten Häute. Sie bestehen aus wasserdichtem Segeltuch und dienen als Schutz gegen Schmuddelwetter.«
Lilou starrte verständnislos in die Runde.
»Hey, Einstein, er will damit sagen, dass Ölhaut ein anderes Wort für Regenmantel ist!«
Lilou kräuselte die Oberlippe zu einem kalten Lächeln. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Das Mädel sah aus, als wollte es mich zu Filets verarbeiten und später auf Butterbrot verspeisen. Neben ihr wirkte die Cheerleader-Truppe der Dale R. Fielding High School wie Barney und seine Freunde , und ich schwor mir, in Zukunft einen weiten Bogen um sie zu machen.
»Zieht euch um, und lasst eure alte Kleidung an Bord«, wies Ronan uns an. Ich ging wieder auf Empfang und erschrak, als mir meine eingeschmuggelten Schätze in den Sinn kamen. Was sollte ich tun? Ronan saß dicht neben mir, und ins Flugzeug-Klo konnte ich den unförmigen Sack auch nicht schleppen.
Ich zuckte zusammen, als sich die Flugbegleiterin über Ronans Schulter beugte. »Soll ich die Erfrischungen servieren?«
Er nickte ihr kurz zu, und im nächsten Moment hielten wir alle Kristallgläser mit einer dicken dunkelroten Flüssigkeit in Händen.
»Was ist das denn?« Ich schnüffelte argwöhnisch. Das Zeug roch widerwärtig, süßlich und metallisch zugleich, wie die verschwitzte Faust eines Kindes, das ein paar Münzen umklammert hielt. Mein Magen verkrampfte
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