Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
hierhergekarrt hatte. Ich blieb auf der Hut, gestattete mir jedoch einen vorsichtigen Optimismus.
Wir beobachteten, wie Lilou um die anderen Mädels herumschlich – eine Löwin auf der Suche nach Beute.
»Wer ist das?«, fragte Amanda.
»Lilou von Straubing.« Ich verdrehte die Augen, um anzudeuten, wie überspannt ich diesen Namen fand.
»Von Straubing?« Die Miene der Aufseherin wirkte plötzlich verschlossen. Obwohl mir diese Frau völlig fremd war, verstand ich doch so viel von Körpersprache, dass ich unwillkürlich den Kopf einzog. Gleich kam der Hammer, das stand fest.
»Was ist?«, fragte ich. Sie versuchte mir etwas vorzuenthalten oder zumindest sehr schonend beizubringen. »Was ist denn?«
»Tut mir leid, Schätzchen. Lilou ist deine Zimmergenossin.«
Als ich die Tür einen Spalt öffnete, machte ich mich auf das Schlimmste gefasst. Schließlich passierte es nicht alle Tage, dass man sich das Zimmer mit seiner Erzfeindin teilen musste. Wenn ich nicht ohnehin beschlossen hätte, bei der erstbesten Gelegenheit abzuhauen, wäre das Privileg, ein Jahr lang mit Lilou in einem Raum zu leben, Grund genug für mich gewesen, ans Festland zu schwimmen . Und das, obwohl ich nicht schwimmen konnte.
Ich vergrößerte den Spalt und schloss entsetzt die Augen, als die Tür wie verrückt zu quietschen begann. Memo an mich: Rein- oder rausschleichen ist nicht! Also atmete ich einmal aus und schob sie ganz auf.
Meine Vorsicht war völlig umsonst gewesen. Lilou hatte noch keinen Blick in das Zimmer geworfen.
Ich betrat eine Mannschaftsstube, wie sie wohl beim Militär üblich war – zumindest beim bayerischen Militär. Während normale Kids an normalen Schulen Dinge wie Target-Bettzeug und Twilight -Poster hatten, gab es hier schlichte Bettgestelle aus unlackiertem Metall, eine Kommode wie in einer Mönchszelle und einen Schreibtisch, der so aussah, als habe ihn jemand aus Zeitmangel direkt aus einer Rieseneiche herausgehauen. Auf einem Stapel blau-weiß karierter Bezüge lagen ein paar blaugraue Decken, die sich genauso kratzig anfühlten, wie sie aussahen.
Ich zuckte mit den Schultern. Zumindest Etagenbetten waren uns erspart geblieben.
Zuerst musste ich meine Musik und das Foto verstecken – wie sehr ich mich danach sehnte, einen kurzen Blick auf das lächelnde Gesicht meiner Mutter zu werfen! –, aber wo in aller Welt ließen sich meine eingeschmuggelten Schätze so verstauen, dass Lilou sie nicht fand? Ich traute ihr ohne Weiteres zu, dass sie in meinen Sachen herumschnüffelte, und sah mich schon für den Rest des Semesters mit iPod und Foto in der Unterhose herumlaufen.
Ich musterte die Schreibtische. Auf jedem befand sich ein Stapel Bücher, die ich sofort ansteuerte und in Augenschein nahm. Es war nicht schwer zu erraten, welcher davon mir gehörte. Der Grundkurs zur deutschen Grammatik war eindeutig für Lilou bestimmt. Ich lachte in mich hinein. Viel Spaß damit, Schnepfchen Schlau. Sie hatte außerdem einen Band über nordische Kulturen und eine dieser englischen Literaturgeschichten in Extra-Dünndruck, die so ziemlich alles enthielten, was Dichter je zu Papier gebracht hatten.
Mein Stapel ließ einiges zu wünschen übrig. Ich kämpfte gegen eine leise Enttäuschung an. Ich meine, was hatte ich denn erwartet? Eine Byron-Erstausgabe, oder was?
Yeah , gestand ich mir ein. Irgendwie schon. Da ich stark annahm, dass diese Vampire steinalt waren, mussten sie doch auch eine paar echt alte, echt coole Bücher besitzen.
Aber alles, was ich auf meinem Schreibtisch vorfand, war eine Nordische Mythologie und ein Spanisch-Englisch-Wörterbuch. Das Zeug über die Götter war ja ganz okay, aber dafür brauchte ich niemals ein ganzes Semester. Das hatte ich in spätestens einer Woche durch. Und überhaupt, was sollte ich hier studieren?
Ich trat an die Kommode und zog eine Schublade nach der anderen auf, mehr aus Gewohnheit als auf der Suche nach etwas Bestimmtem. Zu meiner Überraschung fand ich ganz hinten in der untersten Schublade ein hübsches Kästchen, rot lackiert und mit einem schwarzen Kranich auf dem Deckel. Japanisches Kunsthandwerk, wenn ich mich nicht täuschte.
Ich nahm vorsichtig den Deckel ab – jemand hatte große Mühe darauf verwendet, dass er genau auf das Kästchen passte – und starrte entgeistert den Inhalt an. Vier Wurfsterne lagen auf einem Bett aus schwarzem Samt. Ich konnte erkennen, dass der Stoff sehr alt war. Nicht fadenscheinig, aber mit einer Aura längst vergangener
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