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Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter

Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter

Titel: Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Wolff
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Zeiten.
    Ich fuhr mit einem Finger die Kanten der stahlgrauen, matt schimmernden Sterne entlang. Sie hatten sechs rasiermesserscharfe Spitzen. Mein Daumen hinterließ keinen Abdruck, als ich ihn erst gegen eine der Spitzen und dann gegen die flache Metallscheibe presste. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
    Die Tür flog auf. Mit einer blitzschnellen Bewegung warf ich den Deckel auf das Kästchen und schloss die Schublade.
    Lilou sah mich argwöhnisch an. Ihr Blick wanderte zwischen mir und der Kommode hin und her. »Ich kann nicht behaupten, dass ich begeistert bin, die Bude mit dir zu teilen, Unter–«
    »Ich will diesen blöden Namen nicht mehr hören!« Ich richtete mich hoch auf, ballte eine Hand zur Faust und stemmte sie in die Seite.
    Sie schlenderte lässig herein, ließ den Seesack mit der neuen Ausrüstung einfach fallen und begab sich an ihren Schreibtisch. Mit einem verächtlichen Schniefen durchwühlte sie den Bücherstoß. Dann zog sie der Reihe nach die Schubfächer ihrer Kommode auf, so wie ich es eben getan hatte. Als sie die unterste Lade erreicht hatte, stutzte sie, stieß ein leises Lachen aus und schloss sie mit einem Ruck.
    Hatte sie ebenfalls Wurfsterne entdeckt?
    »Was glotzt du mich so an?« Sie drehte sich nicht um, während sie mit mir sprach. »Du bist doch keine Lesbe, oder?«
    Es reichte. Ich musste hier raus, ehe ich etwas sagte, das mir später leidtat. Ab acht Uhr durften wir das Wohnheim nicht mehr verlassen, aber das galt vermutlich nicht für die Stuben. Ich schnappte mir das Buch über nordische Mythologie und verließ das Zimmer.
    Vermutlich würde es noch ein paar Stunden dauern, bis Lilou schlafen ging, und so machte ich mich daran, das Wohnheim zu erkunden. Das Buch unter den Arm geklemmt, wanderte ich entschlossen durch die Gänge, sorgsam darauf bedacht, keinen Blickkontakt zu den anderen Mädels herzustellen, die mir unterwegs begegneten.
    Das Gebäude hatte vier Stockwerke mit jeweils sechzehn Zimmern, ausgenommen das Erdgeschoss, wo es nur vierzehn Zimmer und eine große Empfangshalle gab. Jedes Stockwerk besaß außerdem vier Gemeinschaftsbäder, zwei an jeder Seite des Flurs, eine Küchenzeile am Ende des Korridors sowie einen Aufenthaltsraum mit bequemen Sesseln und einem Kamin.
    Wie ich durch eine halb offene Tür erkennen konnte, waren die beiden letzten Räume jeden Flurs Appartements mit einem eigenen Sanitärbereich. Ich nahm an, dass hier die Aufseherinnen untergebracht waren. Das bedeutete zwei Eingeweihte pro Etage, also acht Eingeweihte insgesamt.
    Ich überschlug die Zahlen im Kopf. Hundert Mädchen. Fünfzig voll belegte Zimmer plus acht Aufseher-Appartements. Das bedeutete vier leere Räume.
    Vielleicht konnte ich mir irgendwie ein Einzelzimmer verschaffen.
    Yeah, aber wie? Ich hatte den Verdacht, dass entweder Lilou oder ich den Löffel abgeben musste, damit eine von uns einen Raum für sich bekam. Der Gedanke ließ mich frösteln. Ich hoffte nur, meine Zimmergenossin kam nicht zu dem gleichen Schluss wie ich und brachte mich im Schlaf um.
    Ich ging zurück ins zweite Stockwerk, aber unser Licht brannte noch. Obwohl es spät war und ich mich hundemüde fühlte, beschloss ich, noch eine Weile auszuharren, bis Lilou schlief. Irgendwie fand ich es gewöhnungsbedürftig, mich in ihrer Gegenwart umzuziehen und ins Bett zu steigen. Stattdessen lümmelte ich mich auf eine Couch im leeren Aufenthaltsraum.
    Das Wohnheim war wie ausgestorben, und ich genoss die friedliche Stille. Die mit einem burgunderroten Rippsamt bezogene Couch hatte etwas flauschig Gemütliches. Als ich mich bequem in eine Ecke schmiegte, spürte ich einen leisen Druck gegen meinen Bauch. Der iPod. Ich fischte ihn aus der Unterwäsche und glättete das Foto meiner Mutter über seinem flachen, harten Gehäuse. Ihre großen lächelnden Augen schienen mir Trost zu spenden. Ich war sicher, dass sie in einem marineblauen Overall stark ausgesehen hätte.
    Mit einem Seufzer wählte ich Indie-Rock und da wiederum The National. Ich versteckte die Ohrstöpsel gut in meinen Haaren und stellte die Musik auf extra leise. Dann schlug ich mein Buch auf und las. Und las.
    Zwei weitere Streifzüge zu meinem Zimmer verrieten mir, dass sich die Angelegenheit zum berühmten Angsthuhn-Spiel entwickelte: Sie wollte das Licht erst ausmachen, wenn ich ins Bett ging, und ich wollte erst ins Bett gehen, wenn sie fest schlief. Diejenige von uns beiden, die den kürzeren Atem hatte, war das Angsthuhn.
    Es versteht

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