Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
zu. »Hast du etwa Schiss , Unterschicht?«
Offen gestanden, ja. Dass wir beide eine Nachricht erhalten hatten, machte mich stutzig. Bekam ich Ärger wegen der Nummer, die ich nachts mit dem Schnee abgezogen hatte?
»Es ist nur dein Stundenplan, Freak.« Sie rauschte in den Korridor und knallte die Tür hinter sich zu.
Ich sprang vom Bett auf und schob den Umschlag in meine Tasche. Ich hatte verzweifelt auf diesen Moment des Alleinseins gewartet, um ein besseres Versteck für meinen iPod und das Foto zu suchen. Das nächtliche Erlebnis mit den Eingeweihten hatte mir klar vor Augen geführt, dass man mir jederzeit die Kleidung abnehmen und mich betäuben konnte.
Ich hatte in den frühen Morgenstunden den Inhalt meines Seesacks zum Großteil ausgeräumt. Ein Teil meiner Kleidung lag noch zum Trocknen in der Stube herum, aber das japanische Kästchen hatte ich in der untersten Schublade meiner Kommode verstaut.
Jetzt holte ich es noch einmal hervor, öffnete es und berührte ehrfürchtig das glatte Metall der Ninja-Sterne. Zwar hatte ich keine Ahnung, was ich mit den Dingern anfangen sollte, aber sie waren einfach die coolsten Geräte, die ich je gesehen hatte. Ich hob sie aus ihrem Samtbett und löste vorsichtig die winzigen Heftklammern aus Messing, mit denen das Futter am Kästchen befestigt war. Dann schob ich meine Schätze unter den Stoff, schlug den Saum wieder nach innen und legte die Wurfklingen obenauf.
Das Kästchen war das perfekte Versteck für den flachen, glatten iPod. Ich hoffte nur, dass mich sein Gewicht nicht verriet, falls meine Zimmergenossin auf die Idee kommen sollte, in meinen Sachen herumzuschnüffeln.
Ein Gong ertönte. Es war ein schöner Klang, voll und rein, so wie man sich die Gongs in einem tibetanischen Kloster vorstellte. Die Vibrationen schwangen in meinem Körper nach, und einen Moment lang hatte ich das Gefühl, ich sei Teil von einem großen Ganzen. Der Gong rief zum Frühstück.
Was bedeutete, dass ich wieder mal zu spät dran war.
Ich rannte ins Freie. Der Morgen war klar und der Schnee fast geschmolzen. Nur hier und da zeigten sich ein paar grauweiße Flecken im Karree des Innenhofs.
Als ich den Weg entlanglief, fühlte ich mich stark und wie befreit. Ich kannte ein Geheimnis dieses Weges. Ich hatte ihn im Dunkel bezwungen und einen seiner Dämonen zu Gesicht bekommen.
Ich nahm die Stufen zum Speisesaal im Laufschritt und zog die schwere Eichentür auf. Herrliche Wärme schlug mir entgegen. Ich trat über die Schwelle. Stimmengewirr hüllte mich ein. Es roch nach knusprigem Speck und Kaffee.
Und dann stockte mir der Atem. Alle Gedanken an Lilou und die letzte Nacht wurden von einem völlig unerwarteten Anblick verdrängt.
Es gab hier Jungs .
»Es gibt hier Jungs ?« Ich ließ mich neben Amanda auf einen Stuhl fallen und setzte mein Tablett eine Spur zu hart ab. Schwarzer Kaffee schwappte über den Rand meines Bechers.
»Wie du siehst.« Sie lächelte schwach, ehe sie sich wieder ihrem Joghurt zuwandte. Aufseherinnen nahmen die Mahlzeiten mit ihren Acari ein, und ich war fest entschlossen, meiner Betreuerin so viele Informationen wie nur möglich zu entlocken.
Leider sah die Sitzordnung auch vor, dass Lilou ihren Platz neben mir hatte. Herzgesicht war ebenfalls da, dazu eine Rotte Mädels, denen ich nur ungern im Dunkel begegnen würde. Die meisten hatten Schüsseln mit Haferbrei vor sich stehen.
Amanda nahm einen Löffel Joghurt und warf einen Blick zu dem Tisch mit den Jungs hinüber. »Wir sprachen eben darüber. Die jungen Männer machen hier ihre praktische Ausbildung.«
»Hieß es nicht, nur Mädchen kämen als Wächter infrage?«
»Stimmt. Die Jungs sind auch nicht als Wächter, sondern als Vampire vorgesehen.«
»Als Vampire?« Ich sah mir die Kandidaten verstohlen an. Ich hatte die Mädels für attraktiv gehalten, aber die Gestalten, die am anderen Ende des Speisesaals Berge von Rühreiern und Würstchen verdrückten, hätten es durchaus mit Football-Stars aufnehmen können. Einige von ihnen guckten zwar etwas dämlich aus der Wäsche und warfen sich in Positur wie vor dem großen Endspiel, aber ich hatte inzwischen gelernt, dass es ein grober Fehler sein konnte, die Leute, die hier auf der Insel gelandet waren, zu unterschätzen.
Wie viele ihres Standes gab es wohl, wenn Vampire nicht mehr tun mussten, als einen geeigneten Jungen zu suchen, ihn auszubilden und zack! in einen Untoten zu verwandeln? Mich überkam ein Frösteln. »Ich dachte immer,
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