Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
bestünde darin, sich in allen Dingen besser zu erweisen als die anderen. Ich hatte versucht, unter dem Radar wegzutauchen. Ich hatte gedacht, ich könnte mich unauffällig an die Spitze arbeiten. Aber Lilou hatte mir diesen Plan versaut. Nun kannten mich alle Overalls als das Mädel, das in der Dusche umgekippt war. Meine Anonymität konnte ich in der Pfeife rauchen.
Als ich die dritte Runde antrat, hatten meine Füße eine Schlangenlinie schwarzer Abdrücke in den schmelzenden Schnee gestampft. Das monotone Hämmern meiner Schritte und das Spritzen des matschigen Untergrunds hypnotisierte mich. Alles, was ich aufnahm, waren diese Geräusche. Alles, was ich spürte, war das schmerzhafte Auf und Ab meiner Brüste, das schmerzhafte Auf und Ab meiner halb erfrorenen Wangen. Die Luft stach immer noch in meinen Lungen, aber ich konzentrierte mich auf die weiße Wolke, die sich mit jedem Ausatmen vor meinem Gesicht bildete.
Schritt-Schritt. Rache. Schritt-Schritt. Freiheit.
Ich wusste drei Dinge. Ich fror. Das war Lilous Schuld. Dafür sollte sie büßen.
Als ich nach der letzten Runde das Wohnheim erreichte, wartete Amanda, meine Aufseherin, draußen auf mich. Wie eine Vision stand sie da, hochgewachsen und reglos, in einer eng anliegenden Jacke. Sie hatte die Kapuze aufgesetzt. Der Pelzbesatz umgab ihr Gesicht wie ein Heiligenschein, und ihre dunkle Haut glänzte schwach im wässrigen Mondlicht.
Ich sah sie an, anstatt auf den Weg zu achten, rutschte aus und fing mich mit einer Hand ab, ehe ich total zusammenklappte.
»Vorsicht.« Sie lachte leise. »Der Boden ist ’n bisschen glitschig.«
»Yeah.« Ich rappelte mich hoch und klopfte mir den Schnee von der Haut. Meine Hände waren so starr vor Kälte, dass ich Angst hatte, die Knochen könnten zersplittern. »Das habe ich gemerkt.«
»Kleiner Tipp, bevor du reingehst?«
In dem Moment, da ich stillstand, hatte ich zu zittern begonnen. Mein Gesicht war eine gefrorene Maske. Ich konnte nicht sprechen, nur kurz nicken. Aber meine Neugier war geweckt.
»Diese Mädchen sind ein Wolfsrudel. Wenn du dich jetzt nicht wehrst, führt Lilou das Rudel an, Baby!«
Lilou war dran – das musste Amanda mir nicht zweimal sagen. Aber wie konnte ich sie abschießen?
Inzwischen schlotterte ich so heftig, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ich starrte dumpf vor mich hin, ohne zu antworten.
»Und du bist die Oberschlaue, wenn ich Ronan richtig verstanden habe? Pass auf!« Das klang, als müsste sie einem besonders unbedarften Kind das Leben erklären. »Lass Lilou diese Runde gewinnen, und du bist geliefert. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen. Aber unsere Mädels sind eine böse Meute, und Acari, die eine Schwäche zeigen, leben nicht lange.« Sie bohrte die Stiefelspitze in den Schnee und unterdrückte ein Lächeln. »Also dann … deine Zimmergenossin schläft friedlich in ihrem Bettchen. Und du weißt, wie kalt der Schnee ist, ja?«
Ich sah sie an, als habe sie den Verstand verloren. Ich war total unterkühlt, und sie fragte mich, ob ich wusste, wie kalt der Schnee war. »N-nein. Ich finde ihn durchaus erträglich.«
»Drew!«, fauchte sie.
Ich biss mir auf die Lippen. Sie war meine Betreuerin, ja, aber sie gehörte auch zu den Eingeweihten.
»Drew«, wiederholte sie etwas freundlicher, »ich habe Ronan versprochen, dir beizustehen, aber ohne deine Mithilfe geht es nicht.«
Sie hatte Ronan versprochen, mir beizustehen? Hatte er sie gebeten, auf mich aufzupassen? Er und Amanda schienen eng befreundet zu sein – vielleicht sogar mehr als das?
Ich versuchte mich auf das eigentliche Problem zu konzentrieren. »Ohne meine Mithilfe geht es nicht«, murmelte ich.
»Du könntest … sagen wir mal … Lilou einen Gruß von draußen mitbringen.« Sie betrachtete vielsagend den Schnee. »Damit sie weiß, wie sehr du den Zusammenhalt unter den Acari schätzt …«
Endlich begriff ich den Kernpunkt ihrer Botschaft.
»Egal, wie du die Sache angehst, du solltest dich beeilen«, fuhr sie fort. »Sonst holst du dir hier draußen noch den Tod.«
»B-besser als B-bauchaufschlitzen«, entgegnete ich. Meine Lippen waren so starr, dass ich kaum ein Wort herausbrachte.
Sie stand mit einem Mal ganz dicht vor mir. »Bist du des Wahnsinns!«, zischte sie und warf einen verstohlenen Blick nach rechts und links. »Sprich so etwas nie wieder laut aus, sonst guckst du dir die Steine bald von unten an!«
Ich starrte sie stumm und mit offenem Mund an.
»So
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