Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
das Glas mit der dicken, dunklen Flüssigkeit an. Bei dem Gedanken, dass es sich um Blut handelte, hätte es mir den Magen umdrehen müssen, aber komischerweise war das nicht der Fall.
Ich nickte wortlos und kippte das Zeug in ein paar langen Zügen. Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass Ronan mir dabei zuschaute.
Ich wandte ihm den Rücken zu, wischte mir den Mund ab und sah zu, wie sich der Speisesaal allmählich leerte. Viele Acari hatten ihre Stundenpläne aus den Umschlägen genommen. Betreuerinnen deuteten, erklärten, beantworteten Fragen.
Mein Umschlag immer war immer noch ungeöffnet. Ich hatte eigentlich beabsichtigt, das während des Frühstücks zu erledigen, aber beim Anblick der Jungs im Speisesaal hatte ich ihn achtlos in die Tasche geschoben.
»Die Mädels werden bei der Suche nach den Unterrichtsräumen deine Hilfe brauchen«, sagte Ronan zu Amanda. Er blieb neben mir stehen, und ich spürte seine Gegenwart wie eine Sonnenfinsternis.
»Hey, ich mache das nicht zum ersten Mal.« In Amandas Stimme schwang leiser Spott mit.
Ich überlegte, wie lange sie schon hier sein mochte. Wie viele Jahre saßen die Mädchen auf dieser Insel fest, bis sie ihren Abschluss geschafft hatten? Ich legte meine Fragen erst mal zu den Akten. Im Moment konnte ich meiner Stimme ohnehin nicht so recht vertrauen.
Ronan stand immer noch neben mir. Ich starrte auf meine Hände herunter und bemühte mich, ganz ruhig zu atmen. Ich war sauer auf ihn. Was also sollte diese Nervosität?
»Annelise?«
O mein Gott, wie er das sagt! War meine Reaktion auf seine Nähe normal, oder benutzte er schon wieder irgendwelche abartigen Tricks? Ich schaute auf, genierte mich aber halb zu Tode, weil mir das Blut in die Wangen schoss. »Yeah, hi.«
»Zeit für deinen Unterricht.« Der grüne Pullover passte echt hammermäßig zu seinen Augen. Die Farbe gab ihnen Seelentiefe, ließ sie vor Leben funkeln und sprühen. Er sah mich forschend an – zumindest bildete ich mir das ein. Suchte er nach Antworten? Versuchte er mich zu hypnotisieren, um mich dann zu irgendwelchen schrecklichen Dingen zu verleiten? Oder wartete er nur ungeduldig darauf, dass die bescheuerte Acari endlich etwas sagte? Er lachte leise in die Stille, und ich hätte mich am liebsten unter dem Tisch verkrochen. »Du hast deinen Stundenplan gelesen, aye?«
»Äh, nein …« Ich kramte in meiner Jackentasche und fischte den Umschlag heraus.
»Die meisten Mädchen haben vier Pflichtvorlesungen und in einem Fach Einzelunterricht«, sagte Amanda.
Ich strahlte. »Einzelunterricht?« Mein Leben lang hatte ich mich danach gesehnt, etwas im Einzelstudium zu erlernen. Ich ging im Geiste die Möglichkeiten durch. Theoretische Mathematik. Dekonstruktivistische Philosophie. Oder stand das Tutorium in irgendeinem Zusammenhang mit diesem Buch über die Gottheiten der Wikinger? Ich hatte mich bereits mit einigen germanischen Sprachen befasst. Altnordisch war nicht dabei gewesen, würde mir aber bestimmt Spaß machen.
Ich riss den Umschlag auf. Das Papier sah teuer aus, wie vergilbtes Pergament mit welligen Rändern. Glaubten die vielleicht, ich wollte das Ding in einem Sammelalbum einkleben?
Ich musste meinen Stundenplan mehrmals durchlesen, bis ich ihn in seiner ganzen Idiotie erfasst hatte. Phänomenologie? Anstandslehre? Kampfsport? Fitness? Herrgott noch mal! Das klang nach einer Mischung aus höfischem Zeitvertreib und CVJM .
Aber es war der letzte Punkt auf der Liste, der mich einem Tobsuchtsanfall nahe brachte. Mein Einzelunterricht. Es war Schwimmen .
»Schwimmen?« Meine Stimme kippte. Es dauerte einen Moment, bis ich gecheckt hatte, was da stand. Weil es das Hinterletzte war, das ich erwartet hatte.
»Aye, das ist dein Einzelunterricht«, sagte Ronan in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
»Aber ich schwimme nicht.«
»Ab jetzt schon.« Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust. »Und ich bin dein Lehrer.«
»Jetzt mal ganz im Ernst.« Ich musste losjoggen, um Ronan auf dem Weg nach draußen einzuholen. » Ich kann nicht schwimmen. «
Allein der Gedanke daran ließ mich ausflippen. Ich hasste das Gefühl, dass mir Wasser in die Nase lief und in den Ohren gurgelte. Dass ich unterging und absoff. Ich hasste es.
Um noch eins draufzusetzen, war Ronan mein Lehrer. Er würde aus nächster Nähe mitkriegen, wie lahmarschig, unfähig und verdammt schissig ich war. Nein, das Schicksal scherte sich nicht um die persönliche Würde einer Annelise
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