Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
und sich damit die Stirn wischte, als sei er schweißgebadet. Natürlich wusste ich, dass das gespielt war. Er starrte zu uns herüber, und ich spürte, wie sich die allgemeine Aufmerksamkeit ihm zuwandte. Fast, als zwinge er die Acari, ihn anzusehen.
Ich hing an der Reckstange und wusste, dass ich etwas tun musste. Irgendetwas. Egal mit welchen Mitteln , hatte er gesagt. Wie war das gemeint?
Er tauchte die Handflächen in den Magnesia-Behälter und verrieb das Pulver. Mit einem einzigen eleganten Sprung schwang er sich an das Seil.
Alle Augen waren nun auf ihn gerichtet. Ich wusste, dass zumindest ich den Blick von ihm lösen sollte, aber ich war wie hypnotisiert. Ronans Beine bildeten einen rechten Winkel zum übrigen Körper. Seine Muskeln waren hart und angespannt. Bauch, Rücken, Nacken … wie aus Stein gemeißelt. Nur seine Arme bewegten sich. Hand über Hand hangelte er sich das Seil nach oben. Das ging blitzschnell.
Ich zwang mich, die Augen abzuwenden. Er tat das für mich . Das war meine einzige Chance.
Ich schloss die Augen und versuchte es noch einmal. Quälte mich mit aller Kraft hoch. Hielt den Atem an, um nicht laut zu stöhnen.
Dann spürte ich eine Hand an meinem Hinterteil und einen kräftigen Schubs nach oben. Der flüchtige Kontakt war grob, intim, verwirrend. Und er verschaffte mir genau den Schwung, den ich brauchte, um mich bis in Kinnhöhe über die Stange zu ziehen.
Egal mit welchen Mitteln. Ich hatte meine Lektion erhalten. Niemand war perfekt, aber mit etwas Glück und Schläue konnte man einen Weg zum Ziel finden.
Ich stieß einen kleinen Triumphschrei aus.
»Guckt mal!«, rief eines der Mädchen.
Nachdem ich mich in die richtige Stellung gehievt hatte, konnte ich mich auch dort halten. Zumindest lange genug, bis sich Lilous Anhängerschar umgedreht und meinen Erfolg bezeugt hatte.
Lange genug, um einen Blick nach unten zu werfen.
Aber ich wusste auch so, wem ich diesen Sieg verdankte.
Meine Hände glitten von der Stange, und ich plumpste auf die Matte. »Warum?«
Herzgesicht zuckte mit den Achseln, wandte sich ab und ging zur Umkleide.
Ich wischte mir die Hände an den Shorts ab. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte ich am Hinterteil eine gerötete Stelle, etwa von der Größe ihrer Hand. All die Wochen hatte sie nicht ein Wort mit mir gesprochen. Warum nun das? Was bezweckte sie damit?
»Freu dich nicht zu früh, Unterschicht!« Lilous Blick wanderte argwöhnisch von mir zu Herzgesicht und wieder zu mir. Dann entfernte sie sich. Im Weggehen drehte sie noch einmal den Kopf nach hinten und musterte mich aus dem Augenwinkel. In diesem Moment erinnerte sie mich an einen Raubvogel. »Du gehst noch den Bach runter.«
Ich musste einfach glauben, dass sich Schönheit durch Klugheit ausstechen ließ. Dass Schläue und Entschlossenheit irgendwann über Engstirnigkeit und Bosheit triumphieren würden. »Dann nehme ich dich mit«, sagte ich, und diesmal spürte ich, wie die Worte in meinem Innern nachhallten.
Ich fand erst nach dem Unterricht Gelegenheit, mit meiner geheimnisvollen Helferin zu sprechen. »Warte!«, rief ich und lief ihr nach, bevor sie mir wieder entwischen konnte.
»Danke«, sagte ich ein wenig atemlos. Sie schaute mich nur an, wortlos und seltsam abweisend. »Du weißt schon, für vorhin.«
Sie lächelte schwach und zuckte mit den Achseln.
War sie etwa stumm? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. »Ich bin Annelise Drew, aber die Leute nennen mich Drew.« Nun ja, die meisten Leute. »Wie heißt du?«
»Emma Sargent«, sagte sie leise wie ein Mäuschen.
»Hm.« Ich wusste nicht recht, wie ich weitermachen sollte. Brillante Konversation war nicht unbedingt mein Ding.
Sie setzte sich wieder in Bewegung, und ich holte sie mit ein paar Schritten ein, um ihr die nächste logische Frage zu stellen. »Woher kommst du?«
»North Dakota.« Ende.
Okayy. Sie kam mir nicht unbedingt entgegen. So wie es aussah, war sie die einzige Person auf der Insel, die noch weniger redete als ich. Das gefiel mir. »Was hat dich hierher verschlagen, Emma aus North Dakota?«
Wieder zuckte sie mit den Achseln. »Lange Geschichte.«
Offenbar musste man ihr jedes Wort aus der Nase ziehen. Aber damit kam ich klar. Sie hatte mir bei meinem Klimmzug geholfen – dafür war ich ihr so dankbar, dass ich mich sogar in Kleinkinder-Geheimsprache mit ihr unterhalten hätte.
Wir hatten das Wohnheim fast erreicht, als mir noch eine Frage einfiel. »Was hast du eigentlich vor
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