Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
Harvard?« Ich sah Josh bohrend an. »Sie wurde weggebracht, aber wohin?«
Yasuo und Josh wechselten einen raschen Blick, den ich vermutlich nicht mitkriegen sollte. Wussten sie etwas, das ich nicht wusste? Verschwiegen sie mir etwas?
Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen. »Mädchen sind umgekommen. Nicht viele bis jetzt, aber immerhin einige. Dennoch – keiner spricht darüber. Und ich habe keine Särge gesehen.«
»Kein Wunder«, sagte Yas verhalten.
Ich versuchte ihn festzunageln. »Weil die Leichen anderweitige Verwendung finden?«
Josh legte mir einen Arm um die Schultern und beugte sich zu mir herunter. »Stell keine Fragen, die wir nicht beantworten können.« Das klang immer noch lässig, aber ich spürte einen Unterton, der hart wie Stahl war.
Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Wir hatten mein Wohnheim erreicht. Und keine Sekunde zu früh. Ich machte mich los und strebte hastig dem Eingang zu. »Also gut«, sagte ich kühl. »Keine Fragen mehr. Bis bald.«
»Ooch, D, lass uns doch so nicht geh’n!«, rief mir Yas nach. Er begann die Melodie von Don’t Do Me Like That zu pfeifen.
Ich blieb noch einmal stehen und drehte mich um. Die beiden wirkten plötzlich so verlassen, so unbeholfen und jung, dass ich gegen meinen Willen lächeln musste. »Alles okay. Ich bin nicht sauer. Aber ich muss jetzt echt ins Haus.«
»Ich würde dich gern begleiten, wenn das nicht strengstens verboten wäre«, meinte Yasuo mit gespieltem Ernst.
»Und ich erst.« Josh grinste breit. »Dann könnten wir endlich die verruchten Geheimnisse eines Mädchenpensionats ergründen. Helft ihr euch gegenseitig beim Make-up, nur in knappe Handtücher gehüllt?«
Ich verdrehte die Augen. »Klar. Wir sitzen in seidenen Nachthemden rum, schlürfen Champagner und erzählen uns zu Maniküre und Pediküre den neuesten Klatsch.«
Josh legte beide Hände auf die Herzgegend. »Hast du das gehört, Alter? Sie hat eigens für mich einen Scherz gemacht.«
Mir blieb keine Zeit, diesen Scherz zu analysieren, denn in diesem Moment ging Herzgesicht an uns vorbei. Ihr kastanienbraunes Haar glänzte in der Sonne wie geschmolzenes Kupfer. Yas starrte ihr nach, und die verklärte Sehnsucht in seinem Blick hatte fast etwas Erschreckendes.
Josh stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Erde an Yasuo!«
Yasuo klappte den Mund zu. »Hast du schon rausgekriegt, wer sie ist?«, fragte er mich.
»Gib’s auf!« Ich starrte die Tür an, hinter der sie verschwunden war. »Sie scheint noch trantütiger zu sein als ich – und das will was heißen! Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt sprechen kann.«
»Stumm, so ein Jammer, aber sonst echt der Hammer.« Yasuo zog die Augenbrauen hoch. »Scheint die ideale Frau zu sein.«
Ich versetzte ihm einen Schubs. »Jetzt reicht es aber, du Macho!«
Josh hatte mehr auf mich als auf unsere Flachserei geachtet. »Du bist doch nicht trantütig«, sagte er.
Einen Moment lang glaubte ich ihm. Aber ich kehrte rasch in die Wirklichkeit zurück und überlegte erneut, was wohl hinter seiner Freundlichkeit steckte.
Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare und schüttelte das Geblödel der Jungs ab. »So, ihr beiden, ich muss los!« Ich winkte ihnen kurz zu und ging ins Haus.
Ich wollte nicht über Freitauchen oder Blut oder Josh, den Vampir-Anwärter, nachdenken. Ich wollte nicht auffallen oder auch nur bemerkt werden. Ich war überreizt von all den Eindrücken, und als ich mich in meinem Zimmer befand, wollte ich nur noch das Foto meiner Mom herausholen und es anstarren, bis die Welt wieder in Ordnung kam. Obwohl ich befürchtete, dass es lange dauern würde, bis das geschah.
Ich wagte es inzwischen kaum noch, das Foto anzusehen – in der Regel nur, wenn ich mit meiner Kraft völlig am Ende war. Dann musste ich mir ihr blondes Haar und diesen gelb-schwarzen Kill-Bill -Hosenanzug einfach in Erinnerung rufen. Wie wäre es meiner Mutter an diesem Ort ergangen? Ich hatte bis jetzt durchgehalten. Von irgendwoher musste mein Überlebensinstinkt stammen.
Ich rollte mich auf dem Bett zusammen und spürte, wie sich die Gedanken an meinen Vater in den Vordergrund schoben. Sein Hang zu Wutanfällen und gelegentlichen Gewaltausbrüchen war auch in mir vorhanden, irgendwo in meiner DNS verwoben. Und ich hoffte aus ganzem Herzen, dass ich meinen Erfolg nicht ausgerechnet ihm zu verdanken hatte.
Ich lehnte mit finsterer Miene an der Wand der Turnhalle. Es war so weit. Der nächste Fitness-Test stand an. Ich war
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