Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
stieß.
»Hau ab!«, schrie sie bei jedem Stich. »Hau ab!« Ebenso gut hätte sie versuchen können, einen Bären zu verscheuchen.
Da mich der Angreifer eng an sich gepresst hielt, spürte ich jeden Ruck, der durch seinen Körper ging, während er selbst die Attacken schlimmstenfalls als lästige Mückenstiche zu empfinden schien.
Seine Lippen streiften meinen Hals. Er fauchte verärgert, wich ein Stück zurück. Befreit holte ich Luft, nur um sie für einen Schrei zu verschwenden, als mir das Ding wie ein liebeshungriger Galan die Jacke von den Schultern zu streifen begann.
Er beugte sich über mich. Sein Mund war mir so nahe, dass ich die feinen Linien seiner rissigen schwarzen Lippen sehen konnte.
Unvermittelt kreischte er los und wich zurück. Wut verzerrte seine Züge. Er sah aus wie ein in Raserei geratener Dämon.
Dann schubste er mich weg. Ich stolperte und konnte mich gerade noch abfangen, bevor ich ins Feuer fiel.
Das Monster wirbelte zu Emma herum. Sie stieß einen schrillen, beinahe theatralischen Schrei aus, der an die Geräuschkulisse eines schlechten Horrorfilms erinnerte.
Meine Gedanken rasten. Irgendetwas hatte ihn in Rage versetzt. Etwas, das Emma getan hatte.
Mir fiel ein Gespräch ein, das eine gefühlte Ewigkeit zurücklag. Was hatte meine Betreuerin Amanda damals gesagt? Ein Pfahl durchs Herz erledigt sie, das stimmt schon.
Ich rannte auf sie zu. Das Ding hielt sie umklammert wie kurz zuvor mich, aber jetzt schürte wilder Zorn seinen Hunger. Es verkrampfte die Arme um ihren Körper und riss an ihrer Kleidung.
Sie versuchte sich mit dem Messer zur Wehr zu setzen, doch das steigerte seine Wut erst recht. Es schlug nach ihrem Arm, und das Messer flog durch die Luft.
Es landete irgendwo im dunklen Umkreis unseres kleinen Lagers. Ich ließ mich auf alle viere nieder und begann nach der Klinge zu suchen. Ich hatte zum Essen die Handschuhe ausgezogen, aber ich spürte die Kälte nicht, als ich mit bloßen Fingern den gefrorenen Boden und den Schneematsch abtastete.
Ich hörte nur Emmas Wimmern und die grässlichen Laute, die das Monster von sich gab, ein gieriges Brummen, das nach Vorfreude klang.
Ich fand das Messer und stieß ein erleichtertes Schluchzen aus. »Danke, danke, danke.«
Der Griff war plump, schmiegte sich jedoch in Handfläche und Finger, als sei er eigens für mich gefertigt. Ich schlenkerte mit dem Handgelenk, um mich an das Gewicht zu gewöhnen.
Dann sprang ich auf.
Das Monster hatte Emma umgestoßen und hielt sie nun zu Boden gedrückt. Ihre Beine zuckten matt. Ich hoffte, dass ich nicht zu spät kam.
Ein Pfahl durchs Herz.
Ich betete, dass ein Jagdmesser den gleichen Zweck erfüllte.
Mit einem Mal war ich ganz ruhig. Konzentration verdrängte die Angst. Ich war eine Maschine, und ich würde dieses Ding töten.
Ich studierte den Rücken des Geschöpfs, prägte mir den Verlauf von Wirbelsäule und Rippen ein, musterte die knorrige Gestalt. Vom Alter gebeugt. Vom Tod gezeichnet. Dieses Ding war vor langer Zeit mal ein Mensch gewesen.
Mein Blick wanderte an der linken Körperhälfte entlang, schätzte ab, wo das Herz saß. Und dann griff ich mit einem Ausfallschritt an.
»Du hast dir die falschen Opfer ausgesucht«, schrie ich und stieß ihm das Messer wieder und wieder in die Seite. Der Schock, dass sich die Klinge in ein Wesen aus Fleisch und Blut grub, durchzuckte meinen Arm.
Das Ding quiekte los, hoch und schrill wie ein abgestochenes Schwein. Es richtete sich auf, schlug mit beiden Händen in die Luft und taumelte wie betrunken. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Es stolperte.
Das Feuer. Wir standen dicht daneben. Ich sprang auf das Geschöpf zu und schob es dem hellen Schein entgegen. Es fühlte sich jetzt spröde an, splitterig und leicht. Dicht davor, in Staub und Asche zu zerfallen.
»Verbrenne!« Ich schubste es in die Flammen. Es kreischte, zuckte und wand sich in Krämpfen, als die spärlichen orangeroten Flammen höher züngelten. Seine Lumpen begannen zu schwelen, und die Haut barst wie bei unserem Kaninchen am Spieß.
Ich hatte getötet, zum ersten Mal in meinem Leben.
Mein Magen rebellierte und drohte, die Abendmahlzeit wieder von sich zu geben. Ich schluckte krampfhaft, bis das Gefühl verging. Denn in einem Winkel meines Gehirns hatte sich ein primitiver Mechanismus eingeschaltet. Ich musste das Essen bei mir behalten. Ich musste meine Handschuhe anziehen. Ich musste meinen Ekel überwinden und mich an diesem Feuer wärmen, das von einem
Weitere Kostenlose Bücher