Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
dem Kulturbeutel, der zu unserer Grundausstattung gehörte. Emma drückte ein wenig von dem Zeug in den Flusenball und knetete es ein.
»Wow«, sagte ich. »Und was wird das, wenn es fertig ist?«
»Petrolatum. Auch Industrie-Vaseline genannt.«
Es war nicht einfach, ihr eine Erklärung zu entlocken. »Yeah? Ich weiß zwar, dass Petrolatum ein Gemisch aus festen und flüssigen Kohlenwasserstoffen ist, aber …«
»Das Zeug ist brennbar«, unterbrach mich Emma.
»Ohhh. Cool.« Ich kniete mich neben sie. Sie wollte ein Feuer machen. Ein Feuer bedeutete Wärme, heißes Essen, trockene Haare. Ich rieb mir erwartungsvoll die Hände. Emma war nicht unbedingt der Typ, der am Lagerfeuer Gesänge anstimmte, aber ich konnte mir gratulieren, dass ich sie in dieser Nacht an meiner Seite hatte.
Ich sah gebannt zu, als sie aus einem dünnen Stock und einem Stoffstreifen einen Bogen bastelte. Die Bogensehne wand sie um einen dickeren Stock und stellte beides auf den Ast, den sie mit dem Messer abgeflacht hatte. Während sie den Stock nach unten drückte, bewegte sie den Bogen wie eine Säge hin und her. Der Stock drehte sich immer schneller. Emma blies sacht gegen das untere Ende, bis ein Funke den Flusenballen in der Mitte eines kleinen Reisighaufens entfachte. Im nächsten Moment stieg mir Rauch in die Nase, und eine orangerote Flamme züngelte aus dem Gestrüpp.
Sie machte sich daran, das Kaninchen zu häuten. Dabei ging sie so geschickt mit dem Messer um, dass ich froh war, sie nicht zur Gegnerin zu haben. Während unser Abendessen auf einem Spieß briet, schabte sie die Fleischreste von der Innenseite des Kaninchenfells.
Allein der Gedanke an Wärme und Essen hatte meine Nerven beruhigt, und eine Weile saßen wir einfach stumm vor dem Feuer. Schließlich brach ich das Schweigen. »Das also gehört zur Freizeitbeschäftigung der Kids in North Dakota?«
Sie sah mich verständnislos an.
»Sorry. Lahmer Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen.« Notiz an mich: Emma wusste sich in der Wildnis zu helfen, hatte aber null Ahnung von Humor.
»Ich kannte nicht viele Kids.« Sie reinigte das Kaninchenfell, und ich hegte den Verdacht, dass daraus eine neue Kopfbedeckung für mich entstehen sollte. »Großvater und ich lebten völlig abgeschieden auf einem Bauernhof im Slope County.«
Ich dachte an meinen Vater und nahm sofort an, dass sie ähnlich böse Erfahrungen gemacht hatte wie ich. »Hat er dich geschlagen?«
Einen Moment lang wirkte sie perplex. »Mein Großvater?«, rief sie dann. »Niemals. Heiliger Strohsack, wie kommst du denn auf so etwas?«
Das Mädchen fand nichts dabei, überfahrene Tiere am Spieß zu braten und zu verspeisen, aber dann begnügte sie sich mit Heiliger Strohsack anstelle eines aussagekräftigen Fluchs. Verrückt. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht kränken. Ich dachte nur … mein Dad … ach, ist ja auch egal.«
Das schien ihr als Antwort zu genügen.
Abgesehen von ihrem geschickten Umgang mit einem Riesenmesser wirkte sie merkwürdig naiv. Ich fragte mich, wie in aller Welt sie auf dieser Insel gelandet war. Und ich gelangte zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab, das herauszufinden. »Emma, darf ich dich fragen … wie du hierhergekommen bist?«
Die Felswand schützte uns vor dem Schneefall, der bei unserer Ankunft eingesetzt und seither nicht mehr aufgehört hatte. Warmes, bernsteingoldenes Licht umflackerte uns. Aber Emma stand einfach auf und verschwand im Dunkel.
Einen Moment lang glaubte ich allen Ernstes, sie hätte mich hier und jetzt im Stich gelassen. Aber sie kam zurück, Schnee in beiden Fäusten, und rieb sich damit das Blut des Kaninchens von Händen und Unterarmen.
Als sie fertig war, stieß sie neben dem Feuer ein paar Äste in die Erde, bog sie zu kleinen Dreiecken zusammen und spannte das Kaninchenfell zum Trocknen darüber. Dann starrte sie mich über die Flammen hinweg an. Ihre ausdruckslose Miene erinnerte irgendwie an eine leere Schiefertafel. Erst nach einer langen Pause beantwortete sie meine Frage.
»Mein Großvater starb. So um das Erntedankfest. Ich bewirtschaftete den Hof eine Weile allein. Dann tauchten ein paar Männer auf. Sie hatten nichts Gutes im Sinn.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich verteidigte mich. Aber die Behörden sahen das anders. Sie sperrten mich ein und erklärten, ich müsste in ein Heim, weil ich erst sechzehn sei. Dann erhielt ich Besuch. Von einem Mann, der denen sagte, er sei Anwalt. Doch das stimmte nicht. Er
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