Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
darauf zwang ich mich wieder zu einer steinernen Miene. »Was immer er war, er wirkte nicht … rational. Er befand sich in einem Zustand der Raserei und schien ohne Logik und Vernunft zu handeln.« Mir fiel ein Beispiel aus meiner früheren Erlebniswelt ein. »Er erinnerte mich an einen blindwütigen Alligator.«
Amanda nickte. »Draug können kaum denken und fühlen. Sie sind id -Geschöpfe.«
Ich spürte, wie Emma von einem Fuß auf den anderen trat. Vermutlich waren ihr auf dem alten Bauernhof ihres Großvaters Begriffe wie ego und id niemals begegnet. Deshalb erklärte ich Amandas Aussage so unauffällig wie möglich. »Das heißt, sie handeln instinktiv? Aus einem Impuls heraus?«
»Ganz recht, Schätzchen. Sobald sie hungrig sind, wollen sie fressen.« Die anderen Eingeweihten warfen Amanda ärgerliche Blicke zu. Ich hegte den Verdacht, dass sie uns Acari über viele Dinge absichtlich im Dunkel ließen. »Ihr hattet Glück, dass euch das Monster nicht verspeiste.«
»Glück trifft die Sache nicht«, warf Emma mit ungewohnter Bestimmtheit ein. »Ich hatte mein Messer dabei. Wir kämpften um unser Leben, bis es Drew gelang, ihn zu töten.«
Ein leises Raunen ging durch den Raum, als die Eingeweihten diese Information verarbeiteten. Emmas Worte mochten manchen respektlos erscheinen, aber sie hatte die Situation nur sachlich und nüchtern wiedergegeben. Niemand konnte sie deshalb tadeln.
»Acari Drew brachte ihn also zur Strecke?« Masha starrte mich an.
Ich spürte, wie ich blass wurde, und nickte kurz. Wie viele Draug hatte sie wohl schon getötet?
»Gut gemacht, Drew.« Amanda wagte kein Lächeln, aber in ihrem Blick lag ein Hauch von Wärme. Das war zumindest etwas. Ich konnte es nicht ertragen, dass mich alle hier ablehnten.
Meine Gedanken wanderten zu Ronan. Er musste total wütend sein. Würde er mich hassen, weil ich meinen iPod eingeschmuggelt hatte? Schlimmer noch – würde man ihm mein Fehlverhalten anlasten? Ich hoffte, dass mir zumindest mein Sieg über das Monster ein paar Pluspunkte bei ihm einbrachten.
»Also schön«, sagte Trinity. Ihre Stimme hatte nichts an Schärfe verloren. »Geht jetzt und wascht euch. Eure Sachen stinken ganz entsetzlich. Aber kommt anschließend wieder hierher. Ihr werdet heute Nacht nicht schlafen, sondern mit uns Wache stehen und abwarten, welche Mädchen zurückfinden.«
Welche Mädchen. Demnach rechneten sie nicht damit, dass alle heimkehrten. Furcht breitete sich in meinem Innern aus. Ich versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass ich diese gefährliche Situation heraufbeschworen hatte. Versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass es meine Schuld war, wenn heute Nacht eine der Acari starb.
Lilous Gruppe tauchte auf, kurz nachdem wir uns umgezogen hatten. Ihr Blick fand mich, sobald sie den Aufenthaltsraum betreten hatte, und er ließ mich nicht mehr los. Er war kalt und scharf wie geschliffener Stahl.
Sie hatte sich zur Sprecherin der Mädchen aufgeschwungen, was mich nicht weiter erstaunte. Viel eher verwunderte mich, dass sie alle zurückgekehrt waren – und das in so kurzer Zeit.
»Sprich!«, befahl Masha.
»Ich habe sie abgefackelt.« Lilou zog die Handschuhe aus. Ihre Finger und Handrücken waren rußverschmiert. Feuer. Mit Feuer hatte sie ihre Gruppe am Leben erhalten. Feuer war Lilous besondere Gabe.
Sie. Sie hatte mehr als einen Angreifer erledigt. Mir lief ein Schauder über den Rücken. Meine unberechenbare, pyromanische Zimmergenossin jagte mir mehr Angst ein als jedes Monster, das im Dunkel lauerte.
Ein klarer Morgen zog herauf, und Millionen Kristallsplitter glitzerten im Sonnenlicht auf dem Schnee der letzten Nacht. Die Insel sah aus wie ein Winterwunderland. Umso hässlicher hoben sich die schlimmen Nachrichten von dieser Umgebung ab.
Die letzte Gruppe war eingetroffen. Zwei Mädchen insgesamt. Die anderen hatte ein Draug geholt.
Die Französin mit dem Pagenkopf – ich wusste inzwischen, dass sie Steffine hieß – übergab sich immer wieder in einen Abfalleimer in der Ecke. Ihre Freundin mit dem superkurzen Pony befand sich unter den Opfern.
Und ich trug die Verantwortung für den Tod dieses Mädchens. Ich und mein iPod. Und das Bild meiner Mutter. Obwohl ich in diesem Moment wusste, dass ich das Risiko erneut eingegangen wäre, um die letzte Erinnerung an meine Mutter aufrechtzuerhalten. Aber dieses Band war nun zerrissen. Für immer. Ich fragte mich, ob sie das Foto vernichtet hatten.
Ich bedauerte, dass ich mich nicht
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