Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
übergeben konnte. Dass ich nicht kotzen, schreien und heulen konnte. Aber ich wehrte mich mit aller Kraft dagegen, meine Gefühle zu zeigen. Ich starrte Steffines alberne Frisur an – sie hatte ihre Haare schwarz gefärbt, aber inzwischen zeigte sich am Ansatz ein fades Graublond, das an ein Mäusefell erinnerte – und verdrängte mein Schuldbewusstsein.
Ihre Begleiterin, bildhübsch wie die meisten Mädchen aus Idaho, wiederholte die Geschichte. Die Eingeweihten hatten es sich auf den weichen Sesseln und Couches des Aufenthaltsraums gemütlich gemacht wie für einen Filmeabend.
»Er kam«, berichtete sie mit matter, monotoner Stimme. »Er packte eine nach der anderen. Wir bewarfen ihn mit allem, was wir fanden.« Sie war traumatisiert, blutverschmiert und mit Kratzern übersät. Nur ein Zucken in der Wange verriet, dass noch Leben in ihr steckte. »Mit Steinen. Ästen. Aber er umschlang ein Mädchen nach dem anderen. Zog sie an sich. Roch an ihnen. Drückte sie zu Boden. Legte sich auf sie. Biss zu …« Sie atmete schluchzend ein, Leben kehrte in ihre Augen zurück. Entsetzen. »O mein Gott!«, stieß sie mit schriller Stimme hervor. Sie begann zu zittern und zu schreien, als kämpfte sie immer noch gegen das Monster. »O mein Gott! Er soll aufhören!«
»Gratuliere!« Beim Klang dieser Stimme hob ich mit einem Ruck den Kopf. Ich entdeckte Lilous Spiegelbild in der Fensterscheibe. Sie lauerte dicht hinter mir wie eine Meuchelmörderin. Offenbar hatte sie geduscht und sich umgezogen, und trotz des Schlafmangels wirkte sie in ihrer grauen Uniform wie aus dem Ei gepellt. »Darauf kannst du stolz sein.«
Amanda sprang von der Couch auf und legte einen Arm um die Schultern des Mädchens aus Idaho. »Ist ja gut, Schätzchen. Du bist jetzt in Sicherheit. Was hältst du davon, wenn wir dich und deine Begleiterin jetzt erst mal ins Bad bringen und gründlich säubern?«
»Fünf weniger.« Guidon Trinity betrachtete ihre Fingernägel. Das hörte sich so gleichgültig an, als verkündete sie ein Football-Ergebnis.
Ich wechselte einen raschen Blick mit Emma und schaute dann weg. Der Instinkt riet mir, keine Empfindungen zu zeigen, keine Zugehörigkeitsgefühle.
Fünf Mädchen. Tot. Durch meine Schuld.
Endlich löste sich die Versammlung auf. Wie betäubt stolperte ich hinauf in mein Zimmer.
Ich fühlte mich so erschöpft, dass ich wie ein Stein ins Bett fiel. In diesem Moment war mir sogar meine Zimmergenossin egal. Sollte mich die Schlampe doch im Schlaf abfackeln, wenn sie wollte.
Ihre Stimme durchdrang schrill meine Müdigkeit. »Sieh dich vor, Unterschicht! Inzwischen stehst du bei so vielen Mädels auf der Abschussliste, dass wir fast Nummern ausgeben müssen.«
Die Lichter der Turnhalle gingen mit einem lauten Klicken an. Yasuo stand im Eingang und musterte skeptisch die hellen Deckenleuchten. »Bist du sicher, dass wir hier rein dürfen?«
»Ronan fordert uns immer wieder auf, die Halle auch nach dem Unterricht zu nutzen. Vor der Ausgangssperre, versteht sich.« Ich ließ die Sporttasche fallen, schob sie gegen die Wand und zog meine Jacke aus. Dann warf ich Yasuo einen herausfordernden Blick zu. »Sag bloß, dass du jetzt kneifst!«
»Vampiranwärter Yasuo Ito hat das Wort kneifen in diesem Zusammenhang noch nie gehört.«
Er trat neben mich und schälte sich aus seinem halblangen schwarzen Wollmantel. »Ich checke nur nicht ganz, warum du mich brauchst. Ihr habt doch Unterricht in Kampfsport. Bringen sie euch da nicht alle nötigen Angriffs- und Verteidigungstechniken bei?«
»Schon. Und Kampfsport ist sicher voll geil – sobald wir mal das Anfänger-Zeug wie Fechtübungen oder Tai-Chi-Figuren hinter uns haben.« Ich kletterte über die Seile in den Ring. »Ich hatte leider keinen Degen parat, als mich dieser Draug attackierte. Es war wohl reines Glück, dass ich mit dem Leben davonkam – und diese Erkenntnis geht mir an die Nieren.«
»Wie es scheint, verhielt sich Emma total cool.« Yas strahlte mich an.
In seiner Stimme schwang Bewunderung mit. Emma war attraktiv, auf eine frische, saubere Art, die ihre ländliche Herkunft verriet. Wäre dies hier die normale Welt gewesen, hätte ich vielleicht versucht, die beiden zusammenzubringen. »Du findest Emma also cool, hm?«
»Ich weiß nicht.« Er schlenderte durch die Halle, blieb am Kletterseil stehen und ruckte daran, als müsste er testen, wie sicher es war. »Ich bin noch nie einem Mädchen wie ihr begegnet – zumindest nicht im
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