Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
jetzt war sie wach, und er war zu Ende.
Zu Ende.
Sie lachte kurz auf, voller Ironie. Sie musste die einzige Frau auf der Welt sein, die in dem weißen Nichts eines Schneesturms aufwachte und eher Erleichterung verspürte statt Verzweiflung. Seltsam. Sie konnte sich noch nicht einmal daran entsinnen, eingeschlafen zu sein. Sie musste müder gewesen sein, als sie gedacht hatte.
Nur als Vorsichtsmaßnahme nahm sie die alte Flinte von dem Haken an der Wand. Ihre Hände zitterten ein bisschen, als sie sie lud und sich an die Schießübungen auf dem Anwesen ihres Vaters am See erinnerte. Sie lehnte die Waffe in eine Ecke, schob eine schwere Truhe vor die Tür und blickte aus dem Fenster. Der Morgen brach bereits an. Entschlossen zwang sie sich, sich auf das zu konzentrieren, was am wichtigsten war. Zuerst das Feuer. Inzwischen wusste sie, dass sie die kleineren Holzstücke locker in die glühende Holzkohle legen musste, unter die Scheite, um es zu schüren. Sie probierte den Blasebalg aus, bis sie herausgefunden hatte, wie sie ihn benutzen musste. Sie erzeugte Luftströme, um die Flammen anzufachen, und verfolgte mit übertriebenem Stolz, dass diese Technik schnell und gut Wirkung zeigte. Als sie erst einmal ein hübsches Feuer brennen hatte, erhitzte sie Wasser in dem einzigen Topf, den sie auftreiben konnte. Sie vermutete, dass die Quelle bald zufrieren würde, und dann würde sie Schnee auftauen müssen, um Wasser zu haben. Gestern hätte sie die Vorstellung noch in Angst und Schrecken versetzt. Heute sah sie die Sache ganz praktisch.
Aber zunächst sollte sie essen. Der Maisgrieß reizte sie nicht, und bei dem Gedanken, ihn zu einem teigigen Brei zu verarbeiten, drehte sich ihr der Magen um. Sie beschloss, in den Laden zu gehen und sich dort zu bedienen. Tom und Lightning Jack hatten wenig zurückgelassen, aber sicher würde es irgendetwas Essbares geben.
Als sie die Tür öffnete, riss der Wind sie ihr förmlich aus der Hand und knallte sie gegen die Hauswand. Die Kälte fuhr Deborah sofort in die Knochen. Sie zerrte die Tür wieder zu und presste sich mit dem Rücken dagegen, atmete schwer, als wäre sie in letzter Sekunde den Klauen eines Monsters entkommen.
„Nun gut, Deborah“, sagte sie zu sich. Es war seltsam, zum ersten Mal heute Morgen ihre Stimme zu hören. „Denk in Ruhe nach. Sei vorbereitet.“
Sie durchquerte den Raum, schüttelte die Kleider aus, die sie zum Trocknen vor dem Feuer aufgehängt hatte. Aus irgendeinem Grund konnte sie den Albtraum nicht völlig abschütteln, er hing wie Spinnweben in den Ecken ihres Verstandes.
Während sie ihren Gedanken freien Lauf ließ, zog sie sich jedes Kleidungsstück an, dessen sie habhaft werden konnte, ein altes Hemd aus weichem Flanell eingeschlossen, das sie auf einem Haken hinter der Tür entdeckt hatte. Als sie es sich überstreifte, passierte etwas Unerwartetes. Ihr stieg ein Geruch in die Nase, den sie wiedererkannte. Der Duft nach Wind und Wäldern und dem See und … Tom Silver.
Sie schnappte nach Luft, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, und sie begann an dem Stoff zu zerren. Dann aber, als sich Bilder von Tom in ihrem Kopf formten, verlangsamten sich ihre Bewegungen. Sie sah ihn vor sich – der Wilde, der in das Haus ihres Vaters gestürmt kam, der große Beschützer, der ein kleines Mädchen aus den Flammen rettete, der Schiffer, der Geschäftsmann, der Händler. Der Mann, der um einen Jungen trauerte, den er wie seinen eigenen Sohn geliebt hatte. Sie hatte viele verschiedene Facetten von Tom Silver gesehen, aber nie erlebt, dass man sich ernsthaft vor ihm hätte fürchten müssen. Und das war merkwürdig, denn schließlich war er in das Haus ihres Vaters gekommen, um ihn zu erschießen.
Aber selbst da hatte irgendeine leise Ahnung ihr ins Ohr geflüstert, dass dieser Mann kein Mörder war.
Langsam stieß sie den angehaltenen Atem aus, knöpfte das Hemd vorne zu. Sie setzte sich ihren grauen Filzhut auf, zog sich ihre Handschuhe an … und musste mit einem Mal an Toms große kräftige Finger denken, die sich mit ihren winzigen Handschuhknöpfen abmühten. Er war überall, spukte in jeder Ecke dieses Hauses, in jeder Nische ihres Verstandes und ihres Herzens. Sie schien dem Gedanken an ihn nicht entfliehen zu können, obwohl sie wünschte, sie könnte es. Jedenfalls musste sie sich jetzt seinetwegen keine Sorgen machen. Er war ohne sie zum Festland übergesetzt. Sie war ganz allein.
Die raue Wolldecke gab einen brauchbaren Umhang ab. Sie
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