Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
Sinne ein. Aber sie wurde einfach weitergezogen, und nun nahm sie die kleinen Dramen, die sich um sie herum abspielten, zur Kenntnis, die herzerweichenden Einzelheiten. Eine Mutter hielt ihr schreiendes Baby im Arm und rannte die Straße entlang. Ein Kind stand an einer Straßenecke und drehte sich weinend im Kreis, bis jemand es packte und mit ihm davonlief. Ein einzelner Schuh in der Gosse. Eine abgegriffene alte Lumpenpuppe auf dem Pflaster. Überall, wo sie hinschaute, sah sie die grausamen Zeichen von Verlust und Zerstörung. Ein betrunkener Mann stand auf einem Klavier und verkündete lauthals, das Feuer sei der Freund des kleinen Mannes, forderte die Leute auf, sich mit Alkohol zu versorgen. Eine Flasche flog durch die Luft und traf ihn, er torkelte und fiel auf die Straße.
Der Weltuntergang ist gekommen, überlegte sie. Und Satan hatte die Hölle verlassen, um sie durch die Flammen zu geleiten. Aus welchem Grund, das konnte sie nicht sagen. Entsetzen erfasste sie mit derselben unnachgiebigen Heftigkeit, mit der die Flammen sich ausbreiteten.
Inmitten der wogenden Menschenmasse gefangen stolperten sie mit den anderen Fliehenden an großartigen Bauwerken vorbei und Prachtbauten, aus deren Dächern die Flammen schlugen. Deckenbündel wurden aus den oberen Fenstern geworfen. Staunend erkannte Deborah, dass die hastig geschnürten Bündel aus Matratzen und Bettdecken Wertgegenstände enthielten. Und manche, was für ein Wahnsinn, auch Kinder.
Ein kleines Mädchen in einem roten Nachthemd kämpfte sich aus einem der Bündel frei und rannte blindlings auf die Straße, vor Angst laut schreiend. Ohne auf ihre Umgebung zu achten, lief die Kleine geradewegs in den Weg eines wüst schaukelnd heranrasenden Expresswagens.
Der Wilde stieß einen ungeduldigen Laut aus. Er ließ Deborahs Arm los, war mit einem Satz mitten auf der Straße und hob das Kind mit einer ausholenden Bewegung hoch. Rasch trug er das weinende Mädchen auf den Gehsteig. Für einen so großen Mann bewegte er sich ungewöhnlich schnell.
Einen Moment lang war Deborah so überrascht, dass sie einfach stehen blieb, auch wenn sie immer wieder von den Leuten um sie herum angerempelt wurde. Gütiger Himmel, ein Entführer. Der Mann war ein gefährlicher Irrer, der sich hilflose Frauen und Kinder als Opfer aussuchte.
Sie beobachtete, wie er sich das lauthals schreiende Kind auf die Schultern setzte. Mit der freien Hand umfasste er einen schwarzen schmiedeeisernen Laternenpfosten und schwang sich auf das Zementfundament, sodass er hoch über der Menge stand. Das kleine Mädchen schwenkte verzweifelt die Arme, und ein Mann mit einem schweißüberströmten Gesicht löste sich aus der Masse und lief zu ihr.
„Papa“, rief das Mädchen freudig, während der Irre es seinem Vater übergab.
Deborah nutzte die Gelegenheit, zog sich den Schal über den Kopf und mischte sich unter die Leute. Sie hatte keinen anderen Gedanken als zu fliehen, sich in dem Menschenmeer zu verlieren, das durch die Straßen wogte. Das Durcheinander der Geräusche dröhnte so laut, dass ihre Sinne wie betäubt waren. Über allem hörte sie den dünnen hohen Laut, der ungebeten aus ihrer eigenen Kehle aufstieg. Nie hatte sie gesehen, wie ein Wolf ein Kaninchen jagte, aber jetzt erfuhr sie, wie sich ein Kaninchen fühlen musste, wenn ein Jäger seine Fährte aufgenommen hatte, und es vor ihm floh. Vor zwei Tagen hatte sie ihr Leben noch im Griff gehabt. Sie hatte gewusst, wer sie war und wo sie hingehörte. Und wenn sie, von Zeit zu Zeit, eine leisen Anflug von Unzufriedenheit verspürt hatte, hatte sie die beunruhigenden Gedanken mühelos beiseiteschieben können, indem sie sich in Erinnerung rief, wie viele unverdiente Privilegien sie genoss. Die vergangenen beiden Tage hatten sie aus dieser Behaglichkeit gerissen, wie eine Schnecke, die man aus ihrem Haus pulte. Und wie die Schnecke war sie schutzlos, verloren in einer fremden Welt, und wünschte sich, wieder in ihr Schneckenhaus zurückzukriechen, konnte aber den Weg dorthin nicht mehr finden.
Sie zwang sich, weiterzugehen, zu dem großen Platz an der Kreuzung. Sie eilte in die Richtung und prallte gegen eine stämmige Frau in dem schwarzen Musselinkleid einer Haushälterin und dem dazu passenden weißen Spitzenhäubchen. Sie hatte einen Federstaubwedel in einer Hand und stand wie gelähmt vor Entsetzen da, den Mund zum Schrei geöffnet. Unwillkürlich fasste Deborah die Frau an der Hand und zog sie mit sich über den Gehsteig. Sie
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