Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
„Es wäre nichts anderes, als ein Kätzchen in den Dschungel zu verschleppen.“
Tom musste daran denken, wie sie sich benahm, wenn sie sich aufregte. „Sie wird es überleben.“
Er blickte zum Bug, wo Deborah in eine Decke gewickelt saß, die schwache Herbstsonne auf den Schultern, und in einer zerlesenen Ausgabe von Gullivers Reisen blätterte, die sie in einer der Kojen aufgestöbert hatte. Der Seewind spielte mit ihrem Haar, hob die langen goldfarbenen Strähnen ins Licht. Ihr Anblick löste seltsame Gefühle in ihm aus.
Er tat die Empfindungen als Argwohn ab. Vorhin hatte sie den Hafen beobachtet. Sie lagen ein gutes Stück außerhalb des Hafens vor Anker, aber sie hatte schon einen unüberlegten Fluchtversuch unternommen und würde vielleicht einen weiteren wagen.
Eine steife Brise trieb den Schoner und die Brigg schnell in das Hauptfahrwasser. Die Schiffe pflügten durch die eisgrauen Wellen. Im Bug des Kutters sitzend las Deborah vertieft in die Seiten. Eine schwer fassbare Melancholie schien sie einzuhüllen wie ein kühler Nebel.
Das Problem dabei, sie als Geisel zu halten, dachte Tom, ist, dass ich ihr Leiden mit ansehen muss. Und sie war nicht sein Feind. Er stählte sich innerlich. Das hier war für Asa. Asa und die anderen Familien, die Sinclair zerstört hatte. Jetzt durfte er nicht weich werden.
Lightning Jack schien Toms Gedanken zu lesen. „Sie ist vollkommen harmlos, was? Sie ist ohne Hinterlist. Genau wie …“ Er brach ab, aber Tom verstand ihn dennoch.
„Ah. Jetzt begreife ich, worauf du hinauswillst.“ Die schwarze Leere schmerzte jedes Mal, wenn Tom an den Jungen dachte, den er verloren hatte. „Du hast dir eingeredet, sie sei so schuldlos, wie Asa es war. Aber da irrst du.“
„Woher willst du das wissen?“
„Sie ist ein Frauenzimmer, verdammt noch einmal, und eine Sinclair noch dazu. Was muss mehr dazu gesagt werden?“ Tom ballte eine Hand zur Faust. „Merk dir meine Worte. Sie wird uns bei erstbester Gelegenheit verraten.“
„Und wenn du dich irrst?“, fragte Lightning Jack.
„Wenn ich mich irre, können wir sie bei Sainte Marie an Land gehen lassen.“
Tom bot seinem väterlichen Freund das nur an, weil er restlos davon überzeugt war, dass er mit seiner Einschätzung der zierlichen Blondine richtiglag. Trotz der zerbrechlichen Unschuld in ihrem Blick war sie alles andere als harmlos.
9. KAPITEL
D eborah wagte kaum zu atmen, während sie langsam die Schachtel mit den Streichhölzern hervorholte. Sie konnte Tom Silvers Blick auf sich spüren, der sie vom anderen Ende des Kutters aus beobachtete, und sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er sich von ihrer unschuldigen Pose am Bug täuschen ließ.
„Wag es nicht, auch nur einen Mucks zu machen“, warnte sie Smokey, der neben ihr auf einem zusammengerollten Tau lag. „Du hast mir schon einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht, und ich werde nicht zulassen, dass das noch mal passiert.“
Der Hund gähnte und bettete den Kopf auf seine Pfoten.
Deborah zog die dicke karierte Decke fester um sich, öffnete sie vorne aber einen Spaltbreit, damit sie das Streichholz entzünden konnte. Sie blickte nach Osten, wo die Türme, Getreideheber und Schornsteine von Milwaukee sich gen Himmel reckten. Erst letzten Sommer war sie auf der Jacht ihres Vaters hier vorbeigekommen. Es gab einen großen Hafen am See und einen Bahnhof – beste Voraussetzungen, ihren Entführern zu entkommen.
Das letzte Mal, als sie diese Aussicht vom See aus genossen hatte, war sie eine andere gewesen. An Bord der luxuriösen Jacht Triumph hatte sie sich wie eine gut genährte Katze in Philips Aufmerksamkeit und der Billigung ihres Vaters gesonnt. Lucy und Phoebe waren mit von der Partie gewesen, und sie erinnerte sich, gedacht zu haben, wie vollkommen doch alles war. Vergangenen August war sie unbekümmert und wie schwerelos gewesen, hatte keinen Gedanken an etwas Ernstes verschwendet. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Leute wie Tom Silver oder Lightning Jack existierten. Wenn sie gebratene Felchen zum Lunch aß, war sie nie auf die Idee gekommen, sich zu fragen, woher der Fisch wohl stammte, wer ihn gefangen und geputzt hatte, oder wie das Leben desjenigen aussah.
Binnen weniger Tage hatte sie schmerzhaft erfahren müssen, dass die Welt nicht der verzauberte goldene Ort war, als den sie sie bis dahin erlebt hatte. Sie begann eine neue Seite an sich zu entdecken, eine Seite, die nicht von den Lehrern und Lehrerinnen im
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