Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
Farne entfalteten unter den Bäumen ihre Wedel. Im Unterholz raschelte es geheimnisvoll, dann tauchte Smokey wieder auf. Der Waldboden, feucht und modrig von heruntergefallenen Tannennadeln und Blättern, dämpfte ihre Schritte.
Die Bäume formten einen langen grünen Tunnel, an dessen Ende ein diesiges Licht schimmerte. Deborah lief auf dieses Licht zu. Der Weg endete oben auf einem Hügel, von wo aus sie auf … sie war sich nicht sicher, wie sie das nennen sollte, was sie dort sah. Es war zu klein, um als Stadt oder auch nur als Dorf bezeichnet zu werden. Die Ansammlung von Gebäuden stand rund um einen holprigen Fahrweg, der aus gespaltenen Holzstämmen errichtet worden war. Es war eine Art Siedlung.
Sie blickte über die Schulter zu Tom Silver. „Und was jetzt?“
„Wir sind da“, sagte er. „Wir sind zu Hause.“
„ Sie sind vielleicht zu Hause.“ Für Deborah glich der Anblick, der sich ihr bot, einem verlorenen fremden Land. Sie betrachtete die Blockhäuser und die aus Schindeln errichteten Behausungen, beobachtete, wie Rauch sich beinahe über jedem Schornstein kräuselte. Sie plante, sich unter diesen Leuten Verbündete zu suchen. Sie wollte ihr Mitleid erregen. Es würde ihr gelingen, hier jemanden zu finden, der ihr zur Flucht verhelfen würde.
Sie überließ es den Männern, den überladenen Karren den Hügel hinabzubefördern, eilte weiter. Die Hütten und Häuschen waren zum großen Teil hübsch und ordentlich, wenn auch einfach gebaut. Zusätzlich zu den Wohnhäusern gab es noch ein lang gestrecktes niedriges Gebäude und ein weiteres mit einer hohen Vorderseite. Dennoch lag ein seltsames Gefühl von Flüchtigkeit über dem Ort, als stünden seine Bewohner bereit, jederzeit ihre Habseligkeiten zusammenzupacken und weiterzuziehen.
Smokey erreichte als Erster die Siedlung und wurde sofort von einem großen Schäferhund aufgehalten, der auf ihn losstürzte. Deborah stieß einen Warnruf aus, aber das wäre nicht nötig gewesen. Der zottelige kleine Straßenköter behauptete sich mühelos gegen den größeren Hund, brachte ihm mit einem Schnappen Respekt bei. Binnen weniger Minuten tollten die beiden Tiere sich gemeinsam von dannen.
Der bellende Schäferhund hatte ein paar Leute im Ort aufgeschreckt. Türen öffneten sich, Vorhänge wurden hinter Fenstern zurückgezogen und eine Horde Kinder kam aus einem der größeren Häuser gerannt.
„Es ist Lightning Jack!“, rief ein Junge. „Lightning Jack!“
Die Kinderschar schwärmte an Deborah vorbei, aber die meisten schienen sie gar nicht zu bemerken. Sie begriff sofort, dass Lightning Jack hier im Herzen von Nirgendwo überaus beliebt war. Die Kinder überhäuften ihn mit Fragen, wollten wissen, was er aus der großen Stadt mitgebracht habe, wie lange er bleibe und in wessen Haus er heute Abend essen werde.
Lightning Jack lachte so ungezwungen und fröhlich, wie während der ganzen Fahrt hierher nicht ein Mal. „Tenez, les enfants“ , rief er. „Alles zu seiner Zeit. Zuerst einmal brauche ich Hilfe mit der Ladung.“
Als sie die Mitte der Siedlung erreichten, hatte er eine Gruppe begeisterter Helfer im Schlepptau. Smokey genoss bereits die Streicheleinheiten der Kinder. Sie versammelten sich vor dem Handelsposten mit der hohen Vorderseite und dem Staketenzaun davor. Ein sorgsam beschriftetes Schild schwang im Wind, das das Gebäude als „Windigo Trading Post“ bezeichnete. In kleineren Buchstaben stand darunter: „Thomas Silver prop.“
Deborah musterte ihn überrascht. „Das hier ist Ihr Handelsposten?“
„Ja.“
Ein Dutzend weitere Fragen lagen ihr auf der Zunge, aber da sie gerade erst angekommen waren, war ihr klar, dass sie jetzt keine Antworten erhalten würde. Die Kinder, die Jack so begeistert begrüßt hatten, verhielten sich Tom gegenüber wesentlich zurückhaltender. Sie schienen keine Angst vor ihm zu haben, aber sie blieben auf Abstand. Vielleicht war es seine Größe, aber viel wahrscheinlicher war es sein ernster, leicht geistesabwesender Gesichtsausdruck, den Deborah nicht zu deuten wusste, den sie auch nicht ergründen wollte.
Sie bemerkte, dass einige Erwachsene aus ihren Häusern getreten waren, um zu sehen, was der Grund für die ganze Aufregung war. Es waren vor allem Frauen, aber auch ein alter Mann, der sein weißes Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten hatte und grüßend von der anderen Straßenseite eine Hand hob. Ein anderer Mann trug einen Ärmel hochgeschlagen, weil er wohl einen Arm verloren
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