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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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begrüßte die Kreatur höflich und wurde seinerseits freundlich begrüßt, und bald waren die beiden gute Freunde. Der Anthropologe erklärte, so gut er konnte, daß er ein Erforscher von Sitten und Gebräuchen sei, und er bat seinen neuen Freund um entsprechende Auskünfte, die dieser auch bereitwillig erteilte. »Und jetzt«, sagte der Anthropologe schließlich, »hätte ich gern noch in deinen eigenen Worten einige der Geschichten auf Band aufgenommen, die ihr bei euch erzählt.«
    »Geschichten?« fragte die Kreatur.
    »Ja, zum Beispiel euren Schöpfungsmythos, wenn ihr einen habt.«
    »Was ist ein Schöpfungsmythos?«
    »Ganz einfach«, erwiderte der Anthropologe, »das ist das Märchen, das ihr euren Kindern über den Ursprung der Welt erzählt.«
    Bei diesen Worten richtete die Kreatur sich empört auf - so empört, wie ein wabbeliges Etwas sich eben aufrichten kann - und sagte, ihr Volk kenne kein solches Märchen.
    »Ihr habt also nichts dergleichen?«
    »Doch, selbstverständlich«, sagte die Kreatur barsch. »Aber keinen Mythos.«
    »Nein, natürlich nicht«, sagte der Anthropologe, dem verspätet einfiel, was er in seiner Ausbildung gelernt hatte. »Also, ich wäre dir schrecklich dankbar, wenn du mir diese Geschichte erzählen würdest.«
    »Na schön«, sagte die Kreatur. »Aber laß mich eines klarstellen: Wir sind wie ihr rationale Wesen und glauben nur das, was durch Beobachtung, logisches Denken und wissenschaftliche Methoden gesichert ist.«
    »Selbstverständlich«, sagte der Anthropologe beschwichtigend.
    Dann begann die Kreatur endlich mit ihrer Erzählung. »Das Universum«, sagte sie, »entstand vor langer, langer Zeit, vor ungefähr zehn bis fünfzehn Milliarden Jahren. Unser Sonnensystem - also dieser Stern, dieser Planet, und all die anderen Sterne - dürfte vor zwei bis drei Milliarden Jahren entstanden sein.
    Lange Zeit gab es hier überhaupt kein Leben. Dann, nach ungefähr einer Milliarde Jahren, entstand das Leben.«
    »Entschuldige bitte«, unterbrach der Anthropologe, »du sagtest eben, das Leben sei entstanden. Wo genau ist das eurem Mythos zufolge - ich meine, euren wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge passiert?«
    Die Kreatur schien durch die Frage verwirrt, denn sie verfärbte sich zu einem blassen Lavendel. »Du meinst an welchem Ort genau?«
    »Nein. Ich meine, ist das Leben auf dem Land oder im Meer entstanden?«
    »Land?« fragte die Kreatur. »Was ist Land?«
    »Ach so«, sagte der Anthropologe und machte eine Handbewegung zum Ufer. »Das Ding aus Sand und Steinen da drüben.«
    Die Kreatur nahm ein tieferes Lavendel an und sagte: »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Der Sand und die Steine da drüben sind lediglich der Rand der großen Schüssel, die das Meer zusammenhält.«
    »Natürlich«, sagte der Anthropologe, »ich verstehe vollkommen. Natürlich. Fahre fort.«
    »Also gut«, sagte die Kreatur. »Viele hundert Millionen Jahre lang gab es auf der Welt nur Mikroorganismen, die hilflos in der Ursuppe schwammen. Dann entwickelten sich nach und nach komplexere Formen: Einzeller, Schleimbakterien, Algen, Polypen und so weiter. Und zuletzt« - und hier, am Höhepunkt ihrer Geschichte angelangt, wurde die Kreatur rosa vor Stolz - »kam die Qualle!«
    4
    Ich sagte ein oder zwei Minuten lang nichts, sondern funkelte Ismael nur wütend an. Dann sagte ich: »Das ist nicht fair.«
    »Was soll das heißen?«
    »Ich weiß es selbst nicht genau. Du hast eine Aussage gemacht, aber ich weiß nicht genau welche.«
    »Nein?«
    »Nein.«
    »Was hat die Qualle gemeint, als sie sagte: >Und zuletzt kam die Qualle    »Daß ... daß alles auf sie hinauslief. Daß die zehn bis fünfzehn Milliarden Jahre, seit denen die Welt existiert, in der Qualle gipfelten.«
    »Genau. Und warum schließt dein Bericht nicht mit dem Erscheinen der Qualle?«
    Ich glaube, hier mußte ich kichern. »Weil nach der Qualle noch mehr kam.«
    »Genau. Die Entstehung der Welt hörte nicht mit der Qualle auf. Danach kamen noch die Wirbeltiere und die Lurche und die Reptilien und die Säugetiere und zuletzt natürlich der Mensch.«
    »Richtig.«
    »Deshalb schloß dein Bericht mit den Worten: >Und zuletzt kam der Mensch.<«
    »Ja.«
    »Was heißt?«
    »Was heißt, daß danach nichts mehr kam. Daß alles entstanden war.«
    »Der Mensch war also Ende und Ziel des Ganzen.«
    »Ja.«
    »Und in deiner Kultur weiß das jeder. Der Mensch ist der Gipfelpunkt im kosmischen Drama der Schöpfung, er ist die Krone der

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