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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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Leben wie ein Löwe oder ein Känguruh. Drei Millionen Jahre war er nur ein Teil des Chaos, eine weitere Kreatur, die sich im Schlamm suhlte.«
    »Ja.«
    »Erst vor rund zehntausend Jahren erkannte er endlich, daß sein Platz nicht im Schlamm war. Er mußte sich aus dem Schlamm ziehen, die Initiative in die Hand nehmen und auf der Erde Ordnung schaffen.«
    »Stimmt.«
    »Aber die Erde unterwarf sich nicht gehorsam der Herrschaft des Menschen.«
    »Nein.«
    »Die Erde trotzte ihm. Was der Mensch baute, rissen Wind und Regen wieder ein. Der Urwald forderte das Land zurück, das er für Felder und Siedlungen rodete. Vögel pickten die Samen auf, die er aussäte. Insekten knabberten an den Pflanzen, die er anbaute. Mäuse fraßen die Ernte, die er in seinen Speichern aufbewahrte. Wölfe und Füchse raubten die Tiere, die er züchtete und großzog. Berge, Flüsse und Meere waren ihm im Weg und wichen nicht vor ihm zurück, und Erdbeben, Flutwellen, Orkane, Schneestürme hörten nicht auf zu wüten, wenn er es befahl.«
    »Richtig.«
    »Die Erde unterwarf sich nicht gehorsam der Herrschaft des Menschen. Was mußte er also tun?«
    »Wie?«
    »Wenn ein König vor einer Stadt steht, die sich seiner Herrschaft nicht unterwerfen will, was tut er dann?«
    »Er erobert sie.«
    »Genau. Um die Welt beherrschen zu können, mußte der Mensch sie zuerst erobern.«
    »Mein Gott«, sagte ich, und fast wäre ich aufgesprungen und hätte mir an die Stirn und sonstwohin geschlagen.
    »Ja?«
    »Das hört man doch zigmal am Tag. Man braucht nur Radio oder Fernseher einzuschalten, und man hört es jede Stunde. Der Mensch erobert die Wüste, der Mensch erobert die Meere, der Mensch erobert das All.«
    Ismael lächelte. »Du wolltest mir nicht glauben, als ich sagte, diese Geschichte sei in deiner Kultur allgegenwärtig. Jetzt verstehst du, was ich meine. Ihr habt den Mythos eurer Kultur ununterbrochen im Ohr, deshalb beachtet ihr ihn überhaupt nicht mehr. Natürlich erobert der Mensch das All und die Wüste und die Meere. Dazu wurde er eurer Mythologie zufolge ja erschaffen.«
    »Ja. Das ist jetzt vollkommen klar.«
    5
    »Die ersten beiden Teile der Geschichte bilden damit eine Einheit: Die Welt wurde für den Menschen erschaffen, und der Mensch wurde erschaffen, um sie zu erobern und zu beherrschen. Und inwiefern erklärt der zweite Teil, warum die Welt heute so ist und nicht anders?«
    »Laß mich nachdenken ... Das ist wieder der feige Versuch, den Göttern die Schuld zu geben. Sie haben die Welt für den Menschen erschaffen, und sie haben den Menschen erschaffen, damit er die Welt erobert und beherrscht - was ihm schließlich auch gelang. Deshalb ist die Welt heute so, wie sie ist.«
    »Bring die Sache auf den Punkt. Geh noch etwas tiefer.«
    Ich schloß die Augen und dachte ein paar Minuten nach, aber es kam nichts.
    Ismael nickte in Richtung Fenster. »Alles da draußen - eure Triumphe und Tragödien, eure Wunder und euer Elend - ist die direkte Folge von ... was?«
    Ich überlegte eine Weile, aber ich wußte immer noch nicht, worauf er hinauswollte.
    »Dann versuche es so«, sagte Ismael. »Würde die Welt heute anders aussehen, wenn der Mensch von den Göttern dazu bestimmt worden wäre, wie ein Löwe oder ein Känguruh zu leben?«
    »Ja.«
    »Es war die Bestimmung des Menschen, die Welt zu erobern und zu beherrschen. Also ist die heutige Welt die direkte Folge von ...?«
    »Die Folge davon, daß der Mensch seine Bestimmung erfüllt hat.«
    »Genau. Und er mußte seine Bestimmung ja erfüllen.«
    »Unbedingt.«
    »Warum sich also darüber aufregen?«
    »Sehr wahr, sehr wahr.«
    »Aus der Sicht der Nehmer ist das alles nur der Preis der Menschwerdung.«
    »Wie meinst du das?«
    »Der Mensch konnte nicht Mensch werden, solange er mit den Drachen im Schlamm lebte.«
    »Nein.«
    »Um ganz Mensch zu werden, mußte er sich aus dem Schlamm ziehen. Und die heutige Welt ist die Folge davon. Aus der Sicht der Nehmer stellten die Götter den Menschen vor dieselbe Wahl wie Achill: ein kurzes, ruhmreiches Leben oder ein langes, ereignisloses und anonymes Leben. Und die Nehmer wählten das kurze, ruhmreiche Leben.«
    »Es ist wirklich so. Die Leute zucken nur die Schultern und sagen: >Na ja, das ist eben der Preis, den man für sanitäre Einrichtungen, Zentralheizung, Klimaanlage, Autos und alles mögliche zahlen muß.<« Ich musterte Ismael kritisch. »Und was sagst du dazu?«
    »Ich sage, der Preis, den ihr gezahlt habt, ist nicht der Preis der

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