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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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einem einzigen Punkt über die ganze Welt ausgebreitet, veraltet ist. Trotzdem ist der Fruchtbare Halbmond in der Legende immer noch die Geburtsstätte des Ackerbaus, zumindest im Westen, und das hat eine besondere Bedeutung, der wir uns später zuwenden wollen.«
    »Gut.«
    »Der gestrige Teil der Geschichte hat uns gezeigt, was die Welt in den Augen der Nehmer ist: ein System zur Erhaltung menschlichen Lebens, eine Maschine mit dem Zweck, menschliches Leben hervorzubringen und zu bewahren.«
    »Richtig.«
    »Der heutige Teil der Geschichte handelt anscheinend von der Bestimmung des Menschen. Offenbar war der Mensch nicht dazu bestimmt, wie ein Löwe oder ein Känguruh zu leben.«
    »So ist es.«
    »Was ist seine Bestimmung dann?«
    »Hm«, sagte ich. »Na ja, seine Bestimmung ist... etwas zu leisten, etwas Großes zu vollbringen.«
    »Die Nehmer haben da noch konkretere Vorstellungen.«
    »Vielleicht könnte man sagen, die Bestimmung des Menschen ist, die Zivilisation zu errichten.«
    »Denke mythologisch.«
    »Ich weiß leider nicht, wie das geht.«
    »Dann zeige ich es dir. Hör zu.«
    Ich hörte ihm zu.
    3
    »Wie wir gestern gesehen haben, war die Schöpfung mit dem Auftreten der Qualle noch nicht abgeschlossen, und genausowenig mit dem Auftreten der Lurche oder Reptilien oder auch der Säugetiere. Sie war erst abgeschlossen, als der Mensch kam.«
    »Richtig.«
    »Warum waren die Erde und das Universum ohne den Menschen noch nicht vollständig? Warum brauchten die Erde und das Universum den Menschen?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Dann denke nach. Über eine Welt ohne Menschen. Stelle dir die Erde ohne Menschen vor.«
    »Gut«, sagte ich und schloß die Augen. Einige Minuten später sagte ich Ismael, daß ich mir jetzt die Erde ohne Menschen vorstellte.
    »Wie sieht sie aus?«
    »Ich weiß nicht. Wie die Erde eben.«
    »Wo bist du?«
    »Was?«
    »Von wo aus betrachtest du sie?«
    »Ach so. Von oben. Vom Weltall.«
    »Was machst du da oben?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Warum bist du nicht auf der Erde?«
    »Ich weiß nicht. So ohne Menschen ... Ich bin nur ein außerirdischer Besucher.«
    »Steig zur Erde hinunter.«
    »Gut«, sagte ich. Und eine Minute später: »Das ist ja interessant. Ich würde nämlich am liebsten nicht hinuntergehen.«
    »Warum nicht? Was gibt es da unten?«
    Ich lachte. »Na ja, Urwald.«
    »Aha. Du meinst Tennysons »Natur mit blut'gem Zahn und
    blut'ger Klaue, der grauen Vorzeit Drachenbrut, die sich in wüstem Kampfe metzelt«.
    »Genau das.«
    »Und was würde passieren, wenn du es trotzdem tust?«
    »Ich würde von den Drachen in Stücke gerissen.«
    Ich öffnete die Augen und sah, daß Ismael nickte. »Jetzt wird allmählich deutlich, welchen Platz der Mensch im göttlichen Plan einnimmt. Die Götter wollten nicht, daß die Erde ein Urwald bleibt, oder?«
    »Du meinst in unseren Mythen? Natürlich nicht.«
    »Also: Ohne den Menschen war die Welt nicht fertig, war sie lediglich Natur im Rohzustand. Sie war ein urtümliches Chaos.«
    »Stimmt, ganz genau.«
    »Was war also notwendig?«
    »Es mußte jemand kommen und ... für Ordnung sorgen. Jemand mußte aufräumen.«
    »Und wer sorgt für Ordnung? Wer nimmt sich der Anarchie an und schafft geordnete Verhältnisse?«
    »Na ja ... ein Herrscher. Ein König.«
    »Natürlich. Die Welt brauchte einen Herrscher. Sie brauchte den Menschen.«
    »Ja.«
    »Jetzt haben wir also eine klarere Vorstellung, worum die Geschichte geht: Die Welt wurde für den Menschen erschaffen, und der Mensch wurde erschaffen, um sie zu beherrschen.«
    »Ja, das ist jetzt klar. Das leuchtet mir ein.«
    »Und was ist das?«
    »Was?«
    »Ist das eine Tatsache?«
    »Nein.«
    »Was dann?«
    »Ein Mythos«, sagte ich.
    »Was in deiner Kultur niemand zugibt.«
    »Stimmt.«
    Wieder starrte Ismael mich düster durch die Scheibe an.
    »Schau her«, sagte ich nach einer Weile. »Was du mir zeigst und was du tust ... das ist einfach unglaublich. Ich weiß das, aber ich bin einfach nicht der Typ, der jetzt aufspringt, sich an die Stirn schlägt und brüllt: >Mein Gott, das ist ja ganz unglaublich! <«
    Ismael runzelte nachdenklich die Stirn. Dann sagte er: »Bist du krank?«
    Er klang so aufrichtig besorgt, daß ich lachen mußte.
    »In mir ist alles gefroren«, sagte ich. »Ein Eisberg.«
    Betrübt schüttelte Ismael den Kopf.
    4
    »Zurück zum Thema ... Wie du gesagt hast, brauchte der Mensch sehr lange Zeit, bis er endlich begriff, daß er für Größeres ausersehen war als ein

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