Ismael
Menschen des anderen Landes überfallen und töten, damit sie weiter wachsen können. Und wenn die Luft vom Gestöhn meiner Nachkommen erfüllt ist, werde ich zu ihnen sagen: »Ertragt euer Leiden, denn ihr leidet im Namen des Guten. Seht, wie groß wir geworden sind! Die Erkenntnis des Guten und Bösen hat uns zu den Herren der Welt gemacht, und die Götter haben keine Macht über uns. Ihr stöhnt ohne Unterlaß, aber ist es nicht süßer, aus eigener Kraft zu leben statt in der Obhut der Götter?« <«
Und als die Götter das hörten, erkannten sie, daß von allen
Bäumen des Gartens nur der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen Adam vernichten konnte. Und sie sagten zu ihm: »Du darfst von allen Bäumen im Garten essen, nur nicht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, denn an dem Tag, da du von ihm ißt, mußt du sterben.«
7
Ich saß eine Weile wie betäubt da, dann fiel mir ein, daß ich in Ismaels kurioser Büchersammlung eine Bibel gesehen hatte. Es gab sogar deren drei. Ich holte sie, blätterte ein paar Minuten, sah dann auf und sagte: »In keiner dieser Bibeln steht, warum Adam nicht von dem Baum essen durfte.«
»Hast du das erwartet?«
»Na ja ... eigentlich schon.«
»Die Nehmer haben jede Menge Erklärungen zu dieser Geschichte verfaßt, aber sie haben sie trotzdem nie verstanden. Sie konnten nie begreifen, warum die Menschen nicht wissen sollen, was gut und was böse ist. Verstehst du, warum das so schwer für sie ist?«
»Nein.«
»Weil dieses Wissen für die Nehmer das wichtigste Wissen überhaupt ist, das Wissen, das den Menschen am meisten Segen bringt. Warum sollten die Götter es den Menschen also vorenthalten?«
»Stimmt.«
»Wer die Welt beherrschen will, muß vor allem wissen, was gut und was böse ist, denn alles, was er tut, ist für die einen gut und für die anderen schlecht. Beim Herrschen geht es doch letzten Endes um nichts anderes.«
»Ja.« »Und der Mensch wurde erschaffen, die Welt zu beherrschen?«
»Ja, laut dem Mythos der Nehmer.«
»Warum sollten die Götter ihm also das Wissen vorenthalten, das er braucht, um seine Bestimmung zu erfüllen? Aus der Perspektive der Nehmer ergibt das keinen Sinn.«
»Stimmt.«
»Das eigentliche Verhängnis war, daß vor zehntausend Jahren die Menschen deiner Kultur gesagt haben: >Wir sind so weise wie die Götter und können die Welt genauso gut regieren wie diese.< Als die Menschen sich die Macht über Leben und Tod anmaßten, war ihr Schicksal besiegelt.«
»Ja. Weil sie in Wirklichkeit eben nicht so weise sind wie die Götter.«
»Die Götter haben die Welt einige Milliarden Jahre regiert, und alles funktionierte reibungslos. Jetzt sind die Menschen seit einigen tausend Jahren dran, und die Welt steht vor dem Abgrund.«
»Stimmt. Aber die Nehmer werden nie aufgeben.«
Ismael zuckte die Schultern. »Dann werden sie sterben. Wie vorausgesagt. Die Verfasser der Geschichte wußten, wovon sie sprachen.«
8
»Und du sagst, die Geschichte sei aus der Perspektive der Lasser geschrieben?«
»Richtig. Wenn sie aus der Perspektive der Nehmer geschrieben wäre, wäre die Erkenntnis des Guten und Bösen Adam nicht vorenthalten, sondern geradezu aufgedrängt worden. Die Götter hätten gesagt: >Auf, Mensch, merkst du nicht, daß du ohne dieses Wissen nichts bist? Hör auf, von unserer Gnade zu leben wie ein Löwe oder ein Känguruh. Hier, koste von dieser Frucht, und du wirst sofort merken, daß du nackt bist - so nackt wie ein Löwe oder ein Känguruh, der Welt schutzlos ausgeliefert und ohne Macht. Los, koste von der Frucht und werde einer von uns. Dann kannst du Glückspilz diesen Garten verlassen und im Schweiße deines Angesichts dein Brot essen, wie der Mensch es soll.< Und wenn Menschen deiner Kultur die Geschichte verfaßt hätten, wäre nicht vom Sündenfall die Rede, sondern vom Aufstieg - oder, wie du einmal gesagt hast, von Befreiung.«
»Das leuchtet mir ein ... Aber ich sehe noch nicht ganz, wie das mit allem anderen zusammenhängt.«
»Du sollst verstehen lernen, warum die Welt heute so ist und nicht anders.«
»Ich sehe den Zusammenhang immer noch nicht.«
»Vor einer Minute hast du gesagt, die Nehmer würden ihre tyrannische Herrschaft über die Welt nie aufgeben, egal, wie schlecht es ihnen ginge. Warum sind sie so hartnäckig?«
Ich glotzte ihn an.
»Weil sie schon immer glauben, daß das, was sie tun, richtig sei - und deshalb um jeden Preis getan werden müsse. Sie glauben schon immer, sie wüßten
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