Ismael
wie die Götter, was richtig und was falsch sei, und alles, was sie tun, sei richtig. Verstehst du, wie ich zu diesem Schluß komme?«
»Noch nicht.«
»Die Nehmer zwingen alle anderen Menschen, zu tun, was sie tun, und zu leben, wie sie leben. Alle mußten gezwungen werden, zu leben wie die Nehmer, weil nur die Nehmer richtig lebten.«
»Ach so, jetzt verstehe ich.«
»Bei den Lassern betreiben viele Völker Ackerbau, aber sie haben sich nie der Täuschung hingegeben, daß ihr Leben das einzig richtige sei, daß alle Menschen der Welt Ackerbau betreiben müßten und daß noch der letzte Quadratmeter diesem Zweck dienen müsse. Sie haben nie zu den anderen Menschen gesagt: >Ihr dürft nicht länger als Jäger und Sammler leben. Das ist falsch. Das ist böse, und wir verbieten es euch. Bestellt euer Land, oder wir vernichten euch.< Statt dessen sagten sie: >Ihr wollt Jäger und Sammler sein? Uns ist das recht. Wir haben überhaupt nichts dagegen. Wir selbst sind lieber Ackerbauern. Also seid ihr Jäger und Sammler, und wir sind Ackerbauern. Wir maßen uns nicht an zu sagen, welche Lebensart die richtige ist. Wir sagen nur, daß wir lieber Ackerbauern sind.«
»Ja, ich verstehe.«
»Und wenn sie nicht mehr Ackerbauern sein wollten, wenn ihnen diese Lebensform in ihrer jeweiligen Lebenssituation nicht mehr zusagte, hörten sie einfach auf, Ackerbauern zu sein. Sie sagten nicht: >Wir müssen damit weitermachen, auch wenn es uns umbringt, denn das ist die richtige Art zu leben.< Es gab einmal ein Volk, das ein riesiges System von Bewässerungskanälen anlegte, um die Wüste im Südosten des heutigen Arizona fruchtbar zu machen. Sie unterhielten diese Kanäle dreitausend Jahre lang und errichteten eine fortschrittliche Zivilisation, aber dann sagten sie: >Dieses Leben ist anstrengend und unbefriedigend, also Schluß damit.< Und sie zogen einfach fort, und ihre Zivilisation geriet so vollständig in Vergessenheit, daß wir heute nicht einmal mehr ihren Namen kennen. Wir kennen nur den Namen, den die Pima-Indianer ihnen gaben: Hohokam - die, die gegangen sind.
Die Nehmer könnten so etwas nicht. Für sie wäre es praktisch unmöglich aufzugeben, weil das, was sie tun, richtig ist. Sie müssen damit weitermachen, auch wenn das bedeutet, daß sie die ganze Welt und die Menschheit dadurch vernichten.«
»So sieht es tatsächlich aus.«
»Aufzugeben hieße ... was?«
»Aufzugeben hieße ... Es hieße, daß sie die ganze Zeit unrecht gehabt hätten. Es hieße, daß sie nie gewußt hätten, wie man die Welt regiert. Es hieße ... daß sie die Vorstellung aufgeben müßten, sie seien Götter.«
»Sie müßten die Frucht des Baumes wieder ausspucken und die Herrschaft über die Welt den Göttern zurückgeben.«
»Ja.«
9
Ismael deutete mit einem Nicken auf die Bibeln vor meinen Füßen. »Den Autoren dieser Geschichte zufolge haben die Menschen zwischen Euphrat und Tigris vom göttlichen Baum der Erkenntnis gegessen. Wie kommen sie deiner Meinung nach auf diese Idee?«
»Was?«
»Wie kommen die Autoren dieser Geschichte darauf, die Menschen des Fruchtbaren Halbmonds hätten vom göttlichen Baum der Erkenntnis gegessen? Glaubst du, sie sahen es mit eigenen Augen? Glaubst du, sie waren dabei, als die landwirtschaftliche Revolution begann?«
»Schon möglich.«
»Überlege. Wenn sie dabei gewesen wären, wer wären sie dann gewesen?«
»Ach so ... ja richtig. Sie wären die Nehmer gewesen.«
»Und hätten die Geschichte anders erzählt.«
»Ja.«
»Die Autoren dieser Geschichte waren also nicht persönlich dabei. Woher wußten sie dann, was geschehen war? Woher wußten sie, daß die Nehmer sich die Rolle der Götter in der Welt anmaßten?«
»Ach du meine Güte«, sagte ich.
»Wer waren die Autoren denn?«
»Na ja ... die Hebräer?«
Ismael schüttelte den Kopf. »Für die Menschen, die sich Hebräer nannten, war diese Geschichte bereits uralt und geheimnisvoll. Vergiß nicht, daß die Hebräer unbedingt sein wollten wie ihre Nachbarn, die Nehmer. Deshalb wurden sie von ihren Propheten ja immer so gescholten.«
»Aha.«
»Sie haben die Geschichte zwar weitergegeben, aber gar nicht mehr richtig verstanden. Wenn wir jene finden wollen, die sie verstanden haben, müssen wir die Verfasser suchen. Und wer waren die Verfasser?«
»Hm ... die Vorfahren der Hebräer.«
»Wer also?«
»Ich habe leider keine Ahnung.«
Ismael grunzte. »Hör zu, ich kann dir nicht verbieten, zu sagen: >Ich habe keine Ahnung.< Aber
Weitere Kostenlose Bücher