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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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den Löwen am ersten Tag hungern zu lassen, dann war es schlecht, das Reh am zweiten Tag dem Löwen auszuliefern. Wenn es gut war, das Reh am zweiten Tag dem Löwen auszuliefern, dann war es schlecht, den Löwen am ersten Tag hungern zu lassen.«
    Die anderen nickten und sagten: »Genau das hätten auch wir gesagt, als wir noch nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten.«
    »Um was für eine Erkenntnis handelt es sich denn da?« fragte der Gott. Er bemerkte den Baum jetzt zum ersten Mal.
    »Koste die Früchte des Baums«, sagten die anderen. »Dann weißt du es.«
    Also kostete der Gott von den Früchten, und die Augen wurden ihm geöffnet. »Ihr habt recht«, sagte er. »Das ist fürwahr eine göttliche Erkenntnis: zu wissen, wer leben und wer sterben soll.«
    5
    »Bisher irgend etwas unklar?« fragte Ismael.
    Ich zuckte zusammen, erschrocken über die Unterbrechung der Erzählung. »Nein. Ich höre dir gespannt zu.«
    Ismael fuhr fort.
    6
    Als die Götter sahen, daß Adam erwachte, sprachen sie untereinander: »Dieser Mensch ist uns sehr ähnlich, er könnte fast einer von uns sein. Welche Lebensspanne und welches Schicksal sollen wir ihm bestimmen?«
    Einer sagte: »Er ist so schön, er soll leben, solange es die Erde gibt. Solange er ein Kind ist, wollen wir für ihn sorgen, wie wir für die anderen Geschöpfe unseres Gartens sorgen, auf daß er sich des Lebens freue, das er von uns hat. Aber wenn er heranwächst, wird er erkennen, daß er viel mehr kann als die anderen Geschöpfe, und er wird unter unserer Obhut ungeduldig werden. Sollen wir ihn dann zum Baum des Lebens führen?«
    Aber ein anderer sagte: »Wir dürfen Adam nicht wie ein Kind zum Baum des Lebens führen, bevor er selbst danach sucht, denn nur indem er selbst sucht, kann er Weisheit erwerben und seiner Fähigkeiten innewerden. Lassen wir ihm die Fürsorge angedeihen, die er als Kind braucht, und schicken wir ihn dann auf die Suche, die er als Heranwachsender braucht. Laßt uns die Suche nach dem Baum des Lebens zu seiner Beschäftigung als Heranwachsendem machen. So kann er selbst entdecken, wie er leben soll, solange es die Erde gibt.«
    Die anderen waren einverstanden, aber einer sagte: »Wir dürfen nicht vergessen, daß diese Suche vielleicht lang und anstrengend ist. Die Jugend ist ungeduldig, und vielleicht verzweifelt Adam nach ein paar tausend Jahren an seiner Aufgabe. Dann könnte er versucht sein, statt dessen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu kosten.«
    »Unsinn«, sagten die anderen. »Du weißt doch, daß die Frucht dieses Baumes nur die Götter nährt. Adam wird davon so wenig satt wie vom Gras der Ochsen. Er mag die Frucht in den Mund nehmen und schlucken, aber sie wird durch seinen Körper wandern, ohne daß er davon einen Nutzen hat. Sicher glaubst auch du nicht, daß er wissen würde, was wir wissen, wenn er von diesem Baum kostet.«
    »Natürlich nicht«, erwiderte der Gott. »Gefährlich ist nicht, daß er wissen würde, was wir wissen, sondern daß er sich das einbildet. Wenn er von der Frucht dieses Baumes gekostet hat, sagt er womöglich: >Ich habe vom göttlichen Baum der Erkenntnis gegessen, deshalb weiß ich jetzt genauso wie die Götter, wie man die Welt beherrscht. Und genau das werde ich jetzt tun.<«
    »Das ist doch absurd«, sagten die anderen Götter. »Wie könnte Adam je so töricht sein, sich einzubilden, er wisse wie wir, wie man die Welt regiert, und könne deshalb tun, was wir tun?
    Keines unserer Geschöpfe wird je wissen, wer leben und wer sterben soll. Das wissen nur wir allein. Adam mag Weisheit erwerben bis ans Ende der Welt, er wäre von diesem Wissen trotzdem noch so weit entfernt wie jetzt.«
    Aber der Gott ließ sich nicht beirren. »Wenn Adam von unserem Baum ißt«, beharrte er, »hat das unabsehbare Folgen, denn er könnte sich selbst täuschen. Obwohl er nicht weiß, was gut ist und was böse, könnte er sagen: >Was ich rechtfertigen kann, ist gut, und was ich nicht rechtfertigen kann, ist schlechte«
    Aber die anderen spotteten darüber nur und sagten: »Das hat doch mit der Erkenntnis des Guten und Bösen nichts zu tun.«
    »Natürlich nicht«, erwiderte der Gott, »aber woher soll Adam das wissen?«
    Die anderen zuckten die Schultern. »Vielleicht glaubt Adam als Kind, er sei weise genug, um die Welt zu regieren, aber was macht das? Ein solcher bornierter Glaube wird vergehen, sobald er erwachsen wird.«
    »Ich weiß nicht«, sagte der Gott. »Kann Adam überhaupt erwachsen

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