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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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neu schien. »Wenn offenkundig ist, daß alles, was wir tun, für die einen gut und für die anderen schlecht ist, dann laßt uns gar nichts tun. Dann kann kein Geschöpf, dem wir das Leben gegeben haben, uns Verbrecher heißen.«
    »Quatsch«, sagte ein anderer barsch. »Wenn wir nichts tun, ist das doch genauso gut für die einen und schlecht für die anderen. Die Geschöpfe, denen wir das Leben gegeben haben, werden sagen: >Seht, wie wir leiden, und die Götter tun nichts! < «
    Und während die Götter sich zankten, fielen die Heuschrecken in Scharen in die Savanne ein, und Heuschrecken, Vögel und Eidechsen priesen die Götter, während die anderen Tiere die Götter verfluchten und starben. Und weil die Götter nicht eingriffen, lebte die Wachtel weiter, und der Fuchs kehrte hungrig in seinen Bau zurück und verfluchte die Götter. Und weil die Wachtel weiterlebte, fraß sie die Heuschrecke, und die Heuschrecke verfluchte die Götter und starb. Und weil die Götter schließlich beschlossen, der Flut des Schmelzwassers Einhalt zu gebieten, trockneten Seen und Sümpfe aus, und die unzähligen Tiere, die in ihnen lebten, verfluchten die Götter und starben.
    Und als die Götter all diese Flüche hörten, da stöhnten sie. »Wir haben unseren Garten zu einem Ort des Grauens gemacht. Wer darin lebt, haßt uns als Tyrannen und Verbrecher, und er hat recht, denn durch das, was wir tun oder nicht tun, bringen wir ihm an einem Tag Glück, am anderen Unglück, ohne zu wissen, was wir eigentlich tun sollten. Die Heuschrecken haben die Savanne kahlgefressen, und das Land hallt von Flüchen, und wir wissen keine Antwort. Fuchs und Heuschrecke verfluchen uns, weil wir die Wachtel haben leben lassen, und wir haben keine Antwort für sie. Sicher verflucht die ganze Welt den Tag, an dem wir sie erschaffen haben, denn wir sind Verbrecher, die abwechselnd Glück und Unglück schicken und dabei nicht wissen, was wir eigentlich tun sollten.«
    Die Götter verfielen in abgrundtiefe Verzweiflung, bis einer von ihnen sagte: »Sagt mal, haben wir in unserem Garten nicht einen Baum gepflanzt, in dessen Früchten die Erkenntnis des Guten und Bösen ist?«
    »Stimmt«, riefen die anderen. »Laßt uns diesen Baum suchen und von den Früchten essen. Dann werden wir wissen, was gut und was böse ist.« Und die Götter fanden den Baum und kosteten von seinen Früchten, und die Augen wurden ihnen geöffnet und sie sagten: »Jetzt wissen wir, wie wir unseren Garten pflegen müssen, ohne zu Verbrechern zu werden und die Rache unserer Geschöpfe auf uns zu laden.«
    Und während sie noch so redeten, begab sich ein Löwe auf die Jagd, und die Götter sagten untereinander: »Heute soll der Löwe hungern, und das Reh, das er getötet hätte, soll noch einen Tag leben.« Der Löwe ging also leer aus, und er kehrte hungrig in seine Höhle zurück und verfluchte die Götter. Diese aber sprachen zu ihm: »Sei beruhigt, denn wir wissen, wie man die Welt regiert, und heute ist der Tag, an dem du hungern mußt.« Und der Löwe war beruhigt.
    Und am nächsten Tag begab er sich wieder auf die Jagd, und die Götter schickten das Reh zu ihm, das sie tags zuvor verschont hatten. Und als das Reh die Fänge des Löwen im Nacken spürte, verfluchte es die Götter. Diese aber sprachen: »Sei beruhigt, denn wir wissen, wie man die Welt regiert, und heute ist der Tag, an dem du sterben mußt, wie gestern der Tag war, an dem du leben durftest.« Und das Reh war beruhigt.
    Da sagten die Götter untereinander: »Die Erkenntnis des Guten und Bösen verleiht wirklich eine gewaltige Macht, denn mit ihr können wir die Welt regieren, ohne zu Verbrechern zu werden. Wenn wir den Löwen gestern ohne diese Erkenntnis nach Hause geschickt hätten, dann wäre das ein Verbrechen gewesen. Und wenn wir heute das Reh ohne diese Erkenntnis in die Fänge des Löwen geschickt hätten, wäre das genauso ein Verbrechen gewesen. Aber so haben wir beides getan, das eine scheinbar das Gegenteil des anderen, und haben doch kein Verbrechen begangen.«
    Einer der Götter war aber auf einem Botengang gewesen, als die anderen vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten. Als er zurückkehrte und hörte, wie die Götter im Fall des Löwen und des Rehs entschieden hatten, sagte er: »Als ihr das getan habt, habt ihr entweder im einen Fall oder im anderen Fall ein Verbrechen begangen, denn das eine ist dem anderen entgegengesetzt, deshalb muß das eine richtig und das andere falsch sein. Wenn es gut war,

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