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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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Anpassung entwickelt, die in der Folgezeit für die semitischen Völker typisch sein sollte.«
    »Ach ja, sie waren Hirten.«
    »Natürlich, Hirten.« Ismael zeigte auf die Grenze zwischen der Nehmer-Kultur der Kupferzeit und den Semiten. »Was passierte also hier?«
    »Keine Ahnung.«
    Ismael nickte in Richtung der Bibeln vor meinen Füßen. »Lies die Geschichte von Kain und Abel in der Genesis, und du weißt
    es.«
    Ich nahm die zuoberst liegende Bibel und schlug das vierte Kapitel auf. Ein paar Minuten später murmelte ich: »Das darf doch nicht wahr sein.«
    10
    Nachdem ich die Geschichte in allen drei Versionen gelesen hatte, blickte ich auf. »An dieser Grenze brachte Kain Abel um«, sagte ich. »Die Ackerbauern bewässerten ihre Felder mit dem Blut der semitischen Hirten.«
    »Richtig. Was hier geschah, geschah auch an allen anderen Grenzen der expandierenden Nehmer: Die Lasser wurden getötet, damit mehr Land kultiviert werden konnte.« Ismael nahm seinen Block und zeigte mir seine Karte dieser Epoche. »Du siehst, daß sich die Gänsefüßchen der Ackerbauern über das ganze Gebiet ausgebreitet haben - nur nicht über das von Semiten bewohnte Gebiet. Hier an dieser Grenze zwischen den Ackerbauern und den semitischen Hirten stehen Kain und Abel einander gegenüber.«
    Ich betrachtete die Karte einige Augenblicke, dann schüttelte ich den Kopf. »Und den Interpreten der Bibel sollte das entgangen sein?«
    »Sicher. Für sie findet diese Geschichte wie eine Fabel Äsops in einem historischen Niemandsland statt. Es würde ihnen nie einfallen, darin semitische Kriegspropaganda zu sehen.«
    »Was sie zugegebenermaßen ist. Ich weiß, wir haben nie verstanden, warum Gott Abels Opfer annahm, Kains Opfer aber nicht. Das ist die Erklärung. Mit dieser Geschichte sagten die Semiten ihren Kindern: >Gott steht auf unserer Seite. Er hebt uns Hirten, und er haßt die blutrünstigen Ackerbauern aus dem Norden.<«

    »Richtig. Solange du glaubst, die Geschichte gehe auf die Ahnherren eurer Kultur zurück, bleibt sie unverständlich. Sie wird erst dann verständlich, wenn du weißt, daß sie von den Gegnern eurer Ahnen verfaßt wurde.«
    »Ja.« Ich starrte eine Weile vor mich hin, dann sah ich mir Ismaels Karte noch einmal an. »Wenn die Ackerbauern aus dem Norden Kaukasier waren«, sagte ich, »ist das Kainszeichen das hier.« Ich zeigte auf mein Gesicht.
    »Möglich. Ganz sicher werden wir nie wissen, was die Verfasser der Geschichte damit meinten.«
    »Aber das ergäbe doch einen Sinn«, beharrte ich. »Kain erhielt das Zeichen, um die anderen zu warnen: >Laßt diesen Mann in
    Ruhe. Er ist gefährlich, und sein Tod wird siebenfach gerächt werden. < Und auf der ganzen Welt mußten doch Menschen erfahren, daß es nicht lohnt, sich mit Menschen weißer Hautfarbe anzulegen.«
    Ismael zuckte die Schultern, vielleicht, weil er nicht überzeugt war oder aber aus Desinteresse.
    11
    »Auf meiner ersten Karte habe ich mit lauter Punkten verdeutlicht, daß im Nahen Osten zu Beginn eurer landwirtschaftlichen Revolution überwiegend Völker der Lasser lebten. Was glaubst du geschah mit diesen Völkern in der Zeit zwischen der ersten Karte und dieser Karte?«
    »Entweder sie wurden überrannt und mußten sich anpassen, oder sie taten es den Nehmern nach und wurden selbst Ackerbauern.«
    Ismael nickte. »Zweifellos erzählte sich jedes Volk eine andere Geschichte über diese Revolution, um zu erklären, wie die Völker des Fruchtbaren Halbmonds Ackerbauern geworden waren, aber nur eine Geschichte ist überliefert - die Geschichte, welche die Semiten ihren Kindern über den Sündenfall Adams und den Brudermord Kains erzählten. Sie ging nicht verloren, weil die Nehmer die Semiten nie unterwarfen und die Semiten keine Bauern werden wollten. Selbst ihre Nachkommen, die Hebräer, die die Geschichte überlieferten, ohne sie richtig zu verstehen, konnten keine allzu große Begeisterung für das Leben des Bauern aufbringen. Und so kam es, daß die Nehmer im Zuge der Ausbreitung des Christentums und des Alten Testaments schließlich eine Geschichte erbten und als ihre eigene ausgaben, mit der ein Feind sie einst denunziert hatte.«
    12
    »Aber zurück zu unserer Frage: Warum glaubten die Semiten, die Volker des Fruchtbaren Halbmonds hätten vom göttlichen Baum der Erkenntnis gegessen?«
    »Hm«, sagte ich, »ich würde sagen, durch eine Art Rückschluß. Sie sahen sich die Leute an, gegen die sie kämpften, und fragten sich dann: >Wie sind

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