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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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sie das geworden?<«
    »Und ihre Antwort?«
    »Na ja ... Sie sagten: > Was fehlt ihnen? Was fehlt unseren Brüdern aus dem Norden? Warum tun sie uns das an? Sie benehmen sich, als ob ...< Ich muß einen Augenblick überlegen.«
    »Laß dir Zeit.«
    Ich dachte einige Minuten nach. »Gut«, sagte ich dann, »ich glaube, die Semiten dachten so: >Wir haben es hier mit etwas ganz Neuem zu tun. Das sind keine Räuberbanden oder Menschen, die uns zähnefletschend anschnauben, damit wir sie auch wirklich bemerken. Diese Burschen sagen ... Unsere Brüder aus dem Norden sagen, wir müßten sterben. Sie sagen, Abel müsse getötet werden. Sie sagen, wir dürften nicht mehr leben. Das ist etwas Neues, und wir verstehen es nicht. Warum können sie nicht im Norden bleiben und Bauern sein, während wir hier leben und Hirten sind? Warum müssen sie uns töten?
    Da droben muß etwas Seltsames passiert sein, damit diese Menschen zu Mördern wurden. Was könnte es gewesen sein? Augenblick ... Sehen wir uns an, wie sie leben. Bisher hat niemand so gelebt. Sie sagen nicht nur, daß wir sterben müssen, sie sagen, alles muß sterben. Sie töten nicht nur uns, sie töten alles. Sie sagen: »Gut, ihr Löwen, eure letzte Stunde hat geschlagen. Wir haben nämlich genug von euch. Verschwindet.« Sie sagen: »Gut, ihr Wölfe, auch von euch haben wir genug. Verschwindet.« Sie sagen ... : »Keiner ißt, nur wir. Alle Nahrung gehört uns, und ohne unsere Erlaubnis bekommt keiner etwas.« Sie sagen: »Wir bestimmen, wer lebt, und wir bestimmen, wer stirbt.«
    Genau! Sie tun, als seien sie die Götter höchstpersönlich. Sie tun, als hätten sie wie die Götter vom Baum der Erkenntnis gegessen, als seien sie so weise wie die Götter und als könnten sie nach Belieben über Leben und Tod bestimmen. Ja, das ist es. Das ist im Norden passiert. Diese Menschen haben den Baum der Erkenntnis gefunden und einige seiner Früchte gestohlen.
    Genau! Richtig! Sie sind ein verfluchtes Volk! Das sieht man auf Anhieb. Als die Götter merkten, was die Menschen getan hatten, sagten sie: »Gut, ihr Unglücksmenschen, das reicht! Wir kümmern uns nicht mehr um euch. Verschwindet. Wir verbannen euch aus dem Garten. Von jetzt an lebt ihr nicht mehr von unserer Gnade, sondern ihr sollt euch im Schweiße eures Angesichts nähren von dem, was das Feld euch gibt.« Und deshalb machen diese verfluchten Bauern auf uns Jagd und bewässern ihre Felder mit unserem Blut.«<
    Als ich fertig war, legte Ismael die Hände in stummem Beifall zusammen.
    Ich grinste verlegen und bedankte mich mit einem bescheidenen Nicken.
    13
    »Ein klarer Hinweis darauf, daß die beiden Geschichten aus der Genesis nicht auf die Ahnherren eurer Kultur zurückgehen, liegt darin, daß die Landwirtschaft nicht als etwas Begehrenswertes dargestellt wird, das man freiwillig wählt, sondern als Fluch. Die Autoren der Geschichte konnten sich buchstäblich nicht vorstellen, daß jemand lieber im Schweiße seines Angesichts leben wollte. Sie fragten also nicht: >Warum führen diese Menschen ein so mühevolles Leben?< Sie fragten: > Welche schreckliche Sünde haben sie begangen, daß sie eine solche Strafe verdienen? Was haben sie getan, daß die Götter ihnen jenes sorgenfreie Leben verweigern, das wir anderen führen?«<
    »Ja, das ist jetzt klar. Im Selbstverständnis unserer Kultur ist der Beginn der Landwirtschaft ein Vorspiel zu unserem Aufstieg. In diesen Geschichten dagegen ist die Landwirtschaft das Los der Gefallenen.«
    14
    »Ich habe eine Frage«, sagte ich. »Warum ist Kain in dieser Geschichte Adams Erstgeborener und Abel der Zweitgeborene?«
    Ismael nickte. »Das hat mehr eine mythologische Bedeutung als eine zeitliche. Ich meine, das Motiv taucht in Sagen immer wieder auf: Wenn ein Vater zwei Söhne hat, einen guten und einen schlechten, ist der schlechte Sohn immer der geliebte Erstgeborene und der Gute der Zweitgeborene - der vom Schicksal Benachteiligte.«
    »Gut. Aber warum sind die beiden in der Geschichte überhaupt die Söhne Adams?«
    Ismael überlegte einen Augenblick. »Weißt du, was >Adam< auf Hebräisch bedeutet? Wir wissen nicht, wie die Semiten Adam nannten, aber wahrscheinlich bedeutete ihr Name dasselbe.«
    »>Adam< bedeutet >Mensch<.«
    »Genau. Die Autoren der Geschichte glaubten, die Menschheit habe sich nach dem Sündenfall geteilt - in die Schlechten und die Guten, die Ackerbauern und die Hirten, wobei die ersten den zweiten nach dem Leben trachteten.«
    »Ach so«, sagte

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