Ismael
die Welt wissen. Die Semiten lebten damals auf der Arabischen Halbinsel vollkommen isoliert, nach allen Richtungen von der Umwelt abgeschnitten entweder durch das Meer oder durch das Volk Kains. In ihrem Bewußtsein bestand die Menschheit buchstäblich nur aus ihnen und ihren Brüdern im Norden, sie waren das einzige Volk der Welt. Zumindest geht das aus ihrer Geschichte hervor. Woher hätten sie wissen sollen, daß Adam nicht nur in ihrem Land vom Baum der Götter gegessen hatte, daß der Fruchtbare Halbmond keineswegs die einzige Region war, wo der Ackerbau aufkam, und daß immer noch überall auf der Welt Menschen lebten wie Adam vor dem Sündenfall.«
»Stimmt«, sagte ich. »Ich wollte die Geschichte mit unserem gesamten heutigen Wissen in Einklang bringen, und das geht natürlich nicht.«
17
»Ich glaube, man kann sagen, daß die Geschichte vom Sündenfall Adams bei weitem die bekannteste Geschichte der Welt ist.«
»Zumindest im Westen«, sagte ich.
»Man kennt sie auch im Osten gut, denn christliche Missionare haben sie überall verbreitet. Sie übt auf alle Nehmer eine magische Anziehungskraft aus.«
»Ja.«
»Warum ist das so?«
»Wahrscheinlich, weil sie vorgibt zu erklären, was bei uns schiefgegangen ist.«
»Aber was genau ging schief? Wie verstehen die Menschen die Geschichte?«
»Adam, der erste Mensch, aß die Frucht des verbotenen Baumes.«
»Und was soll das heißen?«
»Das weiß ich, offen gesagt, nicht. Ich habe noch nie eine einleuchtende Erklärung gehört.«
»Und die Erkenntnis des Guten und Bösen?«
»Auch dazu kenne ich keine einleuchtende Erklärung. Die meisten Menschen glauben wahrscheinlich, die Götter hätten durch ihr Verbot Adams Gehorsam auf die Probe stellen wollen, der Inhalt des Verbots dagegen sei weniger wichtig. Und der Sündenfall sei im Grund ein Akt des Ungehorsams gewesen.«
»Der eigentlich nichts mit der Erkenntnis des Guten und Bösen zu tun hat?«
»Nein. Aber ich denke, für einige Leute ist die Erkenntnis des Guten und Bösen ein Symbol von ... von ich weiß nicht genau was. Sie halten den Sündenfall für gleichbedeutend mit dem Verlust der Unschuld.«
»Unschuld ist in diesem Zusammenhang wahrscheinlich gleichbedeutend mit seliger Unwissenheit.«
»Ja ... Etwa so: Der Mensch war unschuldig, bis er den Unterschied zwischen gut und böse entdeckte. Dadurch wurde er schuldig und ein gefallenes Geschöpf.«
»Leider sagt mir das überhaupt nichts.«
»Mir eigentlich auch nicht.«
»Aber wenn du die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel liest, erklärt sie tatsächlich, was schiefging, oder?«
»Ja.«
»Aber die Menschen deiner Kultur können diese Erklärung nicht verstehen, weil sie annehmen, sie sei von Menschen wie ihnen gemacht worden - Menschen, für die feststand, daß die Welt für sie erschaffen worden war, und daß sie die Welt erobern und beherrschen sollten. Für diese Menschen ist die höchste Weisheit der Welt das Wissen um Gut und Böse, und das einzige dem Menschen angemessene Leben das des Ackerbauern. Weil sie die Geschichte der Genesis lasen, als sei sie von einem der Ihren verfaßt worden, hatten sie keine Chance, sie zu verstehen.«
»Stimmt.«
»Aber wenn man sie anders liest, leuchtet sie vollkommen ein:
Der Mensch ist nicht im Besitz der Weisheit, mit der die Götter die Welt regieren, und wenn er sich diese Weisheit anmaßt, führt das nicht zu Fortschritt und Aufklärung, sondern zum Tod.«
»Ja«, sagte ich, »das glaube ich auch - daß die Geschichte das bedeutet. Adam war nicht der Stammvater der Menschheit, er war der Stammvater unserer Kultur.«
»Deshalb ist er für euch so wichtig. Obwohl ihr die Geschichte selbst nicht versteht, könnt ihr euch mit Adam als ihrem Protagonisten identifizieren. Ihn habt ihr von Anfang an als einen der Euren erkannt.«
Zehn
1
Ein Onkel traf unerwartet in der Stadt ein und wollte unterhalten werden. Ich rechnete zunächst mit einem Tag; daraus wurden schließlich zweieinhalb. In Gedanken telegrafierte ich meinem Onkel ununterbrochen Dinge wie: »Wird es nicht allmählich Zeit, daß du abreist? Hast du noch keine Sehnsucht nach deinem Zuhause? Würdest du dir die Stadt nicht lieber auf eigene Faust ansehen? Hast du je daran gedacht, daß ich auch noch andere Dinge zu tun haben könnte?« Aber mein Onkel zeigte keine Reaktion.
Wenige Minuten bevor ich aus dem Haus ging, um ihn zum Flughafen zu bringen, rief einer meiner Kunden an und stellte mir ein Ultimatum: Keine
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