Ismael
ich.
15
»Leider muß ich noch etwas fragen.«
»Dazu bist du ja hier. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
»Gut. Meine Frage ist: Welche Rolle spielt Eva in der ganzen Geschichte?«
»Was bedeutet ihr Name?«
»Laut dem Kommentar hier >Leben<.«
»Nicht >Lust«
»Nein, dem Kommentar zufolge nicht.«
»In der Kultur der Nehmer verkörpert die Frau die Versuchung der Lust, in der Kultur der Lasser die Versuchung des Lebens.«
»Warum?«
»Überlege: Hundert Männer und eine Frau machen noch keine hundert Babys, ein Mann und hundert Frauen dagegen sehr wohl.«
»Ich verstehe immer noch nicht.«
»Ich will damit sagen, daß Männer und Frauen in puncto Bevölkerungswachstum deutlich unterschiedliche Rollen spielen und keineswegs gleich sind.«
»Gut. Aber ich verstehe immer noch nicht.«
»Versetze dich einmal in die Gedankenwelt von Menschen, die keine Bauern sind, Menschen also, für die Geburtenkontrolle von entscheidender Bedeutung ist. Konkret gesagt: Wenn auf fünfzig männliche Hirten nur eine Frau kommt, besteht keine Gefahr einer Bevölkerungsexplosion, wenn dagegen auf einen Mann fünfzig Frauen kommen, ist die Katastrophe vorprogrammiert. Weil die Menschen Menschen sind, werden aus diesen einundfünfzig Hirten über Nacht hundert.«
»Stimmt. Aber ich sehe leider immer noch nicht, was das mit der Geschichte in der Genesis zu tun hat.«
»Geduld. Wenden wir uns noch einmal den Autoren der Geschichte zu, den Hirten, die von den Ackerbauern aus dem Norden in die Wüste abgedrängt wurden. Warum bedrängten ihre Brüder aus dem Norden sie so?«
»Sie wollten das Land der Hirten bebauen.«
»Ja, aber warum?«
»Ach so, jetzt verstehe ich. Sie mußten mehr Nahrung anbauen, weil die Bevölkerung gewachsen war.«
»Natürlich. Und jetzt kannst du noch eine andere Frage beantworten. Du siehst, daß die Ackerbauern sich in Sachen Bevölkerungswachstum keinerlei Zurückhaltung auferlegten. Sie hatten keine Geburtenkontrolle. Wenn die Nahrung nicht mehr reichte, bestellten sie einfach neue Felder.«
»Stimmt.«
»Zu was sagten sie also ja?«
»Hm. Doch, ich glaube, jetzt dämmert mir was. Allerdings noch undeutlich und verschwommen.«
»Vielleicht kannst du es dir so verdeutlichen: Die Semiten mußten wie die meisten Völker, die nicht Ackerbau betrieben, aufpassen, daß das Gleichgewicht der Geschlechter nicht verlorenging. Zu viele Männer bedrohten die Stabilität der Bevölkerung nicht, zu viele Frauen dagegen sehr wohl. Leuchtet dir das ein?«
»Ja.«
»Aber die Semiten stellten nun fest, daß ihren Brüdern aus dem Norden dieses Gleichgewicht egal war. Es kümmerte sie nicht, wenn die Bevölkerung explodierte, sie bestellten einfach neue Felder.«
»Das leuchtet mir ein.«
»Oder versuche es so: Adam und Eva lebten drei Millionen Jahre im Garten Eden von der Gnade der Götter, und das Wachstum der Menschheit war bescheiden. Wenn man lebt wie die Lasser, muß das so sein. Wie die Lasser anderswo brauchten die Menschen nicht zu entscheiden, was nur die Götter entscheiden dürfen: wer leben und wer sterben soll. Als aber Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis an Adam weiterreichte, sagte Adam: >Aha, jetzt verstehe ich. Jetzt sind wir nicht mehr von der Gnade der Götter abhängig. Wir können selbst über Leben und Tod entscheiden und unser Leben selbst in die Hand nehmen. Wir können ja zum Leben sagen und grenzenlos wachsen. < Es müßte dir jetzt einleuchten, daß dieses Ja zum Leben und das Wissen um Gut und Böse nur zwei Seiten derselben Sache sind, und so steht es ja auch in der Genesis.«
»Ja. Es ist nicht ganz einfach, aber ich glaube, ich verstehe es.«
»Immer wenn Mann und Frau in der Kultur der Nehmer sagen, daß es schön wäre, eine große Familie zu haben, wiederholen sie die Szene unter dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Sie sagen zueinander: >Wir haben doch das Recht, das Leben auf diesem Planeten zu verteilen, wie wir wollen. Warum bei vier oder sechs Kindern aufhören? Wir können fünfzehn haben, wenn wir wollen. Wir brauchen nur noch einmal ein paar hundert Hektar Regenwald unterzupflügen - was macht es schon, wenn dabei ein weiteres Dutzend Arten ausstirbt? <«
16
Irgend etwas paßte noch nicht zusammen, aber ich konnte es nicht in Worte fassen.
Ismael sagte, ich solle mir Zeit lassen.
Also dachte ich angestrengt nach, bis Ismael sagte: »Du darfst nicht erwarten, daß du das alles mit dem in Einklang bringen kannst, was wir heute über
Weitere Kostenlose Bücher