Isola - Roman
Vater hat mich zu allen möglichen Ärzten geschleppt. Angeblich ist es irgendwas mit den Nerven, aber genau konnte es niemand sagen.«
Ich dachte an die Tabletten, die ich auf Solos Nachttisch gesehen hatte, dieselbe Sorte, die auch Erika gegen ihre Migräne nahm – immer dann, wenn sie besonders schlimm war. Und ich dachte daran, wie Bernhard einmal völlig ausgeflippt war, als Erika in Verbindung mit den Tabletten Alkohol getrunken hatte. »Bist du wahnsinnig?«, hatte er geschimpft. »Weißt du, was das Zeug für Nebenwirkungen hat?«
»Das sind harte Pillen, die du da schluckst«, murmelte ich.
»Ich weiß.« Solo seufzte. »Aber sie helfen.« Er legte die Fingerspitzen gegeneinander, sodass seine Hände ein Zelt formten. Dann lehnte er seine Zeigefinger an die Nase und starrte darüber hinweg ins Nichts. »Darling hat mich angegraben«, flüsterte er wie zu sich selbst. »In der Höhle, als ihr weg wart. Sie … sie wollte mich küssen, ich hab sie angefahren, dass mir schlecht sei, dass sie mich in Ruhe lassen sollte, aber sie hat nicht aufgehört und dann …« Solo schüttelte immer heftiger mit dem Kopf.
Ich hielt den Atem an. »… und dann?«
Solo ließ die Hände sinken und sah mich an. »Dann weiß ich nichts mehr. Als ich zu mir kam, war Darling ebenfalls fort. Vielleicht ist sie auch … ins Meer gestürzt … wie Joker.« Solos Gesichtsausdruck wurde immer verzweifelter. »Glaubst du, dass Joker gestürzt ist? Glaubst du, dass es ein Unfall war?«
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß genauso wenig wie du«, sagte ich leise.
Wieder starrte ich auf das Bild in meinen Händen, dann schloss ich die Augen und sah Joker vor mir, wie er in seinem schwarzen Mantel auf der Oberfläche des Wassers trieb. Es tat so weh, dass ich die Augen wieder aufriss, aber das änderte nichts. Ich fühlte mich wund, mein ganzer Körper schmerzte äußerlich und innerlich, aber ich konnte nicht weinen, ich war stumm und still wie eine Puppe – genau wie damals, als Erika und Bernhard uns vor der Kapelle in Rio gefunden hatten.
»Wer ist das?«, fragte Solo schließlich und tippte auf das Foto von Esperança. »Wer ist das Mädchen? Sie ist schön. Sie … sieht dir ähnlich.«
Ich nickte. Ja. Das hatte auch Moon gesagt, in der Nacht, als sie sich neben mich in mein Bett gelegt hatte.
»Sie ist meine Schwester«, hörte ich mich sagen. »Der Berg in Rio, der Dois Irmaos, wir sind durch seinen Tunnel gefahren. Auf diesem Berg bin ich geboren. In der Favela, dem Armenviertel, das dort oben liegt. Aber Esperança ist oft mit uns nach unten gegangen, wenn unsere Eltern vollgepumpt mit Drogen waren und es nichts zu essen gab. Es ist verrückt, dass ich mich noch daran erinnere, aber seit ich hier bin, sehe ich immer wieder Bilder. Einen alten Mann, der mir eine Mango gab, meine schreienden Babybrüder, eine Spritze am Boden. Wahrscheinlich waren meine Eltern heroinabhängig, ich habe später gelesen, dass Drogen in einer Favela zum Alltag gehören. An meine Eltern erinnere ich mich nicht, da ist nichts, kein Gesicht, kein Geruch, kein Gefühl. Ich weiß auch die Namen meiner Brüder nicht mehr.«
Meine Hände, die noch immer Esperanças Bild festhielten, begannen zu zittern. »Aber meine große Schwester war immer bei mir, sie … « Ich rang nach Luft und legte meine Hand auf meinen Bauch, an eine Stelle direkt unter der Brust. Plötzlich sah ich all die Bilder wieder vor mir, die mich in den letzten Tagen so wahllos überfallen hatten. Jetzt bildeten sie eine logische Folge – und mein Wunsch, Solo von mir zu erzählen, erfüllte sich in der denkbar dunkelsten Situation. Aber jetzt drängte alles aus mir heraus. Ich sprach, wie ich noch nie zu einem Menschen zuvor gesprochen hatte.
»Esperança sitzt hier«, sagte ich und presste die Hand noch fester auf meinen Bauch. »Genau hier, als wäre sie mit mir verwachsen. Sie hat sich die ganze Zeit um uns gekümmert, um mich und meine Brüder, und ich glaube, sie ist oft mit uns betteln gegangen. Ich erinnere mich daran, dass wir durch die Straßen von Rio gezogen sind und dass meine Brüder noch zu klein zum Laufen waren. Meine Schwester hat sie in einer Schubkarre geschoben. Eines Nachts sind wir wieder unten geblieben, irgendwo in der Stadt, das haben wir oft gemacht. Es war zu dunkel und der Weg nach Hause war zu weit. In dieser Nacht haben wir uns vor eine Kapelle gelegt, auch andere Straßenkinder waren dort, fünf oder sechs. Esperança schien sie zu
Weitere Kostenlose Bücher