Isola - Roman
geschehen ist, nachdem du sie hier runtergeschickt hast, oder?«
Milky, der neben mir ging, blieb so abrupt stehen, dass Alpha in ihn hineinrannte. »Nein«, gab er zurück. »Nein, das weiß ich nicht, ich dachte … «
Er klappte den Mund zu. Was auch immer wir gedacht hatten, es spielte keine Rolle. Wir alle hatten geglaubt, ein Spiel zu spielen, und keiner von uns hatte gemerkt, wann es Ernst geworden war. Die Spielanleitung kam mir wieder in den Sinn, der Moment, als Milky sie vorgelesen hatte. Die Opfer bewegen sich frei auf der Insel, bis sie vom Mörder erwischt werden.
Wer hatte Joker erwischt? Die Hoffnung, dass es ein Unfall gewesen sein konnte, war nicht mehr als ein dünner Faden, an den ich mich klammerte – und änderte nichts an der Tatsache, dass Joker sein Leben verloren hatte.
Gleich neben dem Bett war eine Tür, sie war abgeschlossen, aber sie gab nach, als Alpha und Solo sich mit den Schultern dagegenwarfen. Holz splitterte und vor uns lag ein Gang, der in keiner Weise an die Felsengänge der Höhle erinnerte. Er war von Menschenhand geschaffen worden, vermutlich hatte dieser Teil einst der Überwachung der Insel gedient. An den Decken waren Leitungen und Rohre befestigt, aus denen es stellenweise tropfte, hohle, ploppende Geräusche, die mir in den Ohren wehtaten. Aber der Strom funktionierte und überall gab es Lichtschalter. Kaltes Neonlicht erleuchtete den ausgebauten Korridor, der sich vor uns erstreckte. Ein paar Hundert Meter weiter mündete er in einer zweiten Tür, die nicht abgeschlossen war. Als wir sie öffneten, blies uns schwarze Nachtluft entgegen und das tosende Meer brach sich an den Felsen, die hier wie eine steile Festung in die Höhe ragten. Eine in den Fels geschlagene Treppe führte zum Ufer hinunter, das offensichtlich ebenfalls nur vom Meer aus zu erreichen war. Wir vermuteten, dass wir uns auf der Inselseite links von unserer Unterkunft befanden, auf die wir am Nachmittag herabgeschaut hatten.
Aber Darling war nicht hier.
Niemand war hier.
Wieder im Haupthaus setzten wir uns um den Glastisch, auf dem noch ein paar Essensreste standen. Es roch nach kalter Gemüsesuppe und mir wurde wieder schlecht. Mephisto lag unter dem Tisch und schlief, ich hörte ihn schnarchen und ab und zu leise winseln. Ich starrte auf Moons Bilder an der Wand, an Jokers Gesicht blieb ich hängen, an seiner hochgezogenen Augenbraue, seinem dämonischen Grinsen und an dem weichen, schattenhaften Ausdruck, den Moon ihm in die Mundwinkel gemalt hatte. Verletzlichkeit. Plötzlich schien sie mir Jokers hervorstechendste Eigenschaft zu sein. Sein Bild verschwamm vor meinen Augen, meine Hände wurden kalt. Joker – wie war sein richtiger Name gewesen? Wie alt war er – oder wie jung? Wie hatte er gelebt, vor der Insel, in welcher Stadt, in welcher Familie? Als ich daran dachte, dass seine Eltern nicht einmal wussten, dass ihr Sohn tot war, versteifte sich mein ganzer Körper, von den Zehenspitzen bis unter die Haarwurzeln, und die Spannung in mir ließ mich die Knie gegeneinanderschlagen, immer fester und fester, ich konnte nicht damit aufhören.
In der Mitte des Tisches, eingebettet in die gläserne Mulde, umgeben von Brotkrümeln und einer klebrigen Lache Saft, lag das Spiel. Ich bemerkte, dass Solo den schwarzen Kasten mit dem türkisfarbenen Auge wie in einem stummen Kampf anstarrte. Er saß gegenüber von mir, direkt unter dem Bild von Darling, und als er dieses Mal den Mund öffnete, kam heraus, was ihn vorhin offenbar so gequält hatte.
»Er ist mein Vater.«
Die Worte klangen, als ob Solo an ihnen ersticken würde.
Niemand reagierte, niemand sagte einen einzigen Ton und dann stand Solo auf und griff nach dem schwarzen Kasten. Er hielt ihn hoch über seinen Kopf und schmetterte ihn mit voller Wucht auf den Glastisch, aber der gab nicht nach, nur die Teller bebten und eine Gabel fiel klirrend zu Boden.
Solo setzte sich wieder, er vergrub das Gesicht in den Händen und seine Schultern fingen an zu zittern.
»Wer ist … was?« Alpha zuckte zusammen, als hätten ihn Solos Worte erst jetzt erreicht. »Was redest du da, verdammt – wer ist dein Vater? Tempelhoff?«
Solos Kopf, noch immer zwischen seinen Händen, bewegte sich auf und ab. Auf … und ab.
»Jetzt weiß ich’s.« Plötzlich kam Leben in Elfe. Sie sprang auf und zerrte an Solos Armen, bis er sie vom Gesicht nahm. »Schon im Flugzeug bist du mir bekannt vorgekommen«, keuchte sie und starrte ihn an. »Und jetzt weiß ich
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