Isola - Roman
Toten ist, war für mich schon immer die machtvollste von allen.
»An das, was danach geschehen ist, kann ich mich nicht mehr erinnern«, erzählte ich weiter. »Ich weiß es nur aus Erzählungen. Die beiden Weißen, Erika und Bernhard, haben mich mitgenommen. Erst ins Hotel und später nach Deutschland. Sie haben mich adoptiert, Bernhard hat einiges dafür in Bewegung setzen müssen, aber er war damals schon Arzt, er hatte gute Verbindungen und es hat funktioniert. Er machte die Favela ausfindig, holte sich die Einwilligung meiner Eltern und die Erlaubnis der Ämter. So hat er es mir später erzählt, vielleicht hat er meinen Eltern auch Geld gegeben, ich weiß es nicht. Er war jedenfalls bei mir zu Hause. Unter den wenigen Dingen, die er für mich mitnahm, war auch das Foto meiner Schwester. Ich selbst war nie wieder dort. Bernhard und Erika haben mir einen neuen Namen gegeben. Joy Reichert. So heiße ich – oder so hieß ich, in Deutschland. Esperança habe ich nie wiedergesehen.«
Ich musste innehalten, meine Kehle schnürte sich immer enger zu, bis ich kaum noch atmen konnte.
»Joy.« Solo sprach den Namen aus wie eine Frage. »Das heißt Freude.«
Ich nickte und dachte an die Bedeutung des Namens Vera. Vera – die Wahrhaftige . Ich rang nach Luft, ein langer, tiefer Atemzug, und mit ihm löste sich etwas in meiner Brust. Ich konnte endlich weinen. Solo nahm mich noch immer nicht in den Arm, aber er blieb dicht neben mir und irgendwann legte er die Hand auf meinen Rücken, zwischen meine Schulterblätter, bis ich mich beruhigte.
»Erika und Bernhard waren wunderbare Eltern«, flüsterte ich unter Tränen. »Sie sind wunderbare Eltern. Aber ich wollte immer zurück. Ich wollte zurück nach Hause. Im Internet habe ich herausgefunden, dass sich Esperança in einer Menschenrechtsorganisation für Straßenkinder einsetzt. Ich hab mich nie getraut, sie anzurufen. Ich kann ja nicht mal mehr die Sprache, bis auf ein paar jämmerliche Sätze.«
Ich drehte Esperanças Foto um und starrte auf die Telefonnummer, die ich mir aus dem Internet abgeschrieben hatte. »Als mich Tempel-, ich meine, dein Vater, dann nach einer Tanzaufführung in Hamburg auf das Projekt angesprochen hat, dachte ich, das ist Schicksal. Das bringt mich zurück nach Hause. Ich dachte, wenn ich erst mal hier bin, fällt es mir leichter. Und jetzt … mein Gott. In fünf Tagen werde ich achtzehn. In fünf Tagen bin ich erwachsen.«
Ich legte Esperanças Bild zurück auf den Nachttisch. Dann holte ich noch einmal tief Luft und wandte mich zu Solo. »Was ist mit dir?«, fragte ich. »Von wem ist das Andenken? Das Amulett?«
Solo starrte an mir vorbei, ebenfalls aus dem Fenster heraus. Seine Hände lagen jetzt offen in seinem Schoß, die Oberflächen zur Decke gerichtet. »Von meiner Mutter«, erwiderte er. »Sie ist bei meiner Geburt gestorben. Mein Vater sagt, dass ich ihr sehr ähnlich sehe. Er hat mich allein großgezogen.«
»Keine neue Frau? Keine Geschwister?«
Solo schüttelte den Kopf. »Es gab immer nur uns. Uns zwei. Und seine Filme. Mein Vater hat gesagt, mehr bräuchte er nicht. Er ist sehr extrem, was seine Filme angeht. Und was mich angeht – eigentlich auch. Er ist besitzergreifend, leidenschaftlich, exzessiv, in eigentlich allem, was er tut. Wenn er eine Sache angefangen hat, bringt er sie zu Ende. Egal, wie.«
Ich versuchte, mir Tempelhoffs Gesicht in Erinnerung zu rufen. Die grauen Haare, der Zopf, der stechende Blick, das Schillernde, das ihn umgab, und die teuren Schuhe in den verschiedenen Farben. Dass er überhaupt einen Sohn hatte, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Und dass es ausgerechnet Solo war …
»Wie ist dein richtiger Name?«, fragte ich leise.
»Raphael.« Solo lächelte. »Raphael Tempelhoff-Liebermann. Den Nachnamen Liebermann hat mir meine Mutter vererbt, mein Vater wollte, dass ich ihn behalte.«
Ich dachte an Solos Amulett, sein persönliches Andenken, und an das Bild, das ich darin gesehen hatte. »Raphael, der Engel?«
Solo nickte. »Ja. Meine Mutter wollte, dass ich so heiße. Sie wussten schon vor der Geburt, dass sie einen Sohn bekommen würde, und meine Mutter war sehr gläubig, hat mir mein Vater erzählt. Kennst du die Geschichte von Raphael?«
Ich schüttelte den Kopf. »Du?«
Er nickte, sagte aber nichts weiter dazu.
»Und warum hast du dich Solo genannt?«
»Mein Vater«, sagte Raphael und sein schönes Gesicht wurde dunkel vor Schmerz. »Mein Vater hat mich immer Solo genannt, schon
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