Isola - Roman
vor. Als ob ein einziger Windstoß ihn umwehen könnte. Ich beruhigte mich so weit, dass ich sprechen konnte.
»Die Kapelle«, sagte ich. »Der Felsen im Meer.«
Solo reagierte nicht. Er schien mit der Felswand verschmelzen zu wollen.
»Was ist das gewesen?«, fragte ich mit lauterer Stimme. »Was ist das zwischen uns gewesen?«
Solo sah mich an, er schien jetzt völlig verstört und plötzlich begann mein ganzer Körper zu kribbeln. Es begann in den Fingerspitzen und breitete sich von dort immer weiter aus, bis ich das Gefühl hatte, mich nicht länger auf den Beinen halten zu können. Irgendwie fand ich die Kraft, auf Solo zuzugehen. Ich legte meine Hand auf seine Schulter.
»Küss mich«, sagte ich.
Solo zuckte zusammen, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen.
»Was?«
»Küss mich«, wiederholte ich mit fester Stimme und blickte ihm in die Augen.
Solo öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nichts heraus, er sah aus, als ob er versuchen wollte, das Gesicht von mir abzuwenden, aber er schien nicht die Kraft dafür zu finden. Sein Blick begegnete meinem, Hilflosigkeit, Trauer, Verzweiflung, Zärtlichkeit, all diese Gefühle mischten sich darin und dann, ganz langsam, beugte er sich vor und nahm mein Gesicht zwischen seine Hände. Es lag eine unendliche Scheu in dieser Berührung. Sein Gesicht kam näher und eine Strähne seines Haares streifte meine Wange. Als sich unsere Lippen berührten, schloss ich die Augen. Ich schmiegte mich an ihn. Das Kribbeln in meinem Körper wurde fast unerträglich. Ganz leicht öffnete ich meinen Mund und kostete seine Zunge. Sein Kuss war noch immer scheu, aber dann veränderte er sich, wurde intensiver und aus Solos Brust drang ein tiefes, verzweifeltes Stöhnen.
Ich legte meine Arme fester um ihn, umschloss mit den Händen seinen Nacken und fühlte Wärme in mir aufsteigen – eine tiefe, sanfte Form von Wärme – und mit ihr eine Gewissheit, die keinen Zweifel mehr zuließ.
Ich brauchte nicht nach der dünnen Narbe oberhalb seines Schlüsselbeins zu tasten, über die in jener Nacht im Meer meine Finger geglitten waren. Ich wusste auch so, dass ich sie nicht finden würde. Moons Bild von Solo, das ich an der Wand betrachtet hatte. Mein Gefühl, dass etwas auf diesem Bild gefehlt hatte. Jetzt wusste ich, was es war.
Als ich mich von Solo löste, begann mein Herz, wieder zu rasen, in mir war ein Sturm von Gefühlen und es gelang mir nicht, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Ich brachte nur den einen Satz hervor:
»Du warst es nicht.«
Zweiundzwanzig
D ie Narbe an seinem Schlüsselbein war von einer Messerstecherei im Jugendgefängnis. Später hatte er sich mit seinem Gegner angefreundet, einem sechzehnjährigen Hacker, der das Sicherheitssystem von T-Online geknackt und mithilfe eines Trojanischen Pferdes die Passwörter von mehr als 600 Kunden des Unternehmens aufgedeckt hatte, um sich nach der Haftstrafe anderen Projekten zu widmen, vornehmlich dem DVD-Markt. Auch von ihm hatte er gelernt. Er war sogar sein bester Schüler geworden, hatte Einbruchswerkzeuge nutzen gelernt und sich nach einigen Übungsfeldern Schritt für Schritt seinem eigenen Projekt genähert, seinem Meisterstück sozusagen. Er hatte mit allem Möglichen gerechnet, was schieflaufen konnte, und dass der Mord in der Höhle so reibungslos im Kasten landete, war fast zu viel des Guten gewesen. Dieses unglaubliche Triumphgefühl, als er Tempelhoffs Reaktion auf dem Monitor gesehen hatte. Er hatte sich kaum losreißen können von diesem Anblick, von den Gefühlen, die er auf Tempelhoffs Gesicht hatte ablesen können. Solo, mein geliebter Junge, mein einziger Sohn – ein MÖRDER.
Ja, bis zu diesem Punkt war sein Plan glänzend aufgegangen, alle Fäden hatte er in der Hand behalten. Nur mit Joker hatte er nicht gerechnet, obwohl er selbst in dieser Situation die Nerven behalten hatte – irgendwie. Aber jetzt wurde die Luft langsam dünn, nicht nur des verdammten Handys wegen, das er immer noch nicht hatte finden können.
Als er sah, wie Vera Solo küsste, war ihm kalt geworden. Ganz langsam war das geschehen, Stück für Stück, als würde ihm aus jeder Faser seines Körpers die Wärme entzogen. Wie gelähmt saß er da und erst als hinter seinem Rücken ein Stöhnen ertönte, erwachte er aus seiner Starre. Wenn die beiden jetzt abhauen würden, sah es nicht gut für ihn aus. Denn ohne das Handy konnte auch er nicht von hier weg. Die Polizei würde vermutlich die ganze
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