Isola - Roman
gelehnt, ich konnte nur seinen Rücken sehen, aber dass sein ganzer Körper zum Zerreißen gespannt war, erkannte ich selbst von hier.
»Was?«, raunte er. »Was ist geschehen?«
Quint Tempelhoff zuckte mehrmals schnell hintereinander mit den Augen und sog dann flatternd den Atem ein. »Ich habe ihm Geld gegeben. Damit er uns in Ruhe lässt.«
»Damit er … WAS?«
Solo sprang vom Stuhl auf. Er sah aus, als wollte er auf seinen Vater zustürzen, aber dann blieb er stehen und ballte die Fäuste. »Ich habe ihn gesehen«, schrie er. »Ich habe … ich habe euch gesehen, es war Abend, später Abend. Ich war schon im Bett, aber dann bin ich aufgewacht. Ich hab am Fenster gestanden und gesehen, wie ein Junge aus unserem Gartentor ging. Ich hab dich gefragt, wer das war. Du hast gesagt, ich hätte geträumt. GETRÄUMT! Und eine Woche später sind wir in eine andere Stadt gezogen!«
Tempelhoff nickte, er schien am Ende seiner Kräfte zu sein.
In Tobias’ Gesicht geschah etwas Seltsames, als er sah, wie sein Bruder aus der Fassung geriet. Damit schien er nicht gerechnet zu haben. Seine wie mühsam aufgesetzte Maske bröckelte immer stärker. Es kam mir vor, als warte er verzweifelt auf eine Anweisung von außen, von jemandem, der ihm sagte, was zu tun war.
Aber dann gab er sich einen Ruck und seine Gesichtszüge verhärteten sich wieder. »Zwanzigtausend Deutsche Mark«, sagte er tonlos. »Das habe ich von unserem Vater bekommen. Ein nettes Taschengeld, aber natürlich hatte mich das auch ein Versprechen gekostet. Ich sollte euch in Ruhe lassen. Genau das hat er gesagt. Ich sollte mich nie wieder blicken lassen.«
Tobias fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Und daran habe ich mich gehalten. An diesem Abend hat mich die Polizei von der Straße aufgelesen und dann ging’s zurück ins Heim. Aber das Geld hab ich gespart und mir damit einen besonderen Wunsch erfüllt. Einen Computer und ein paar Hackerwerkzeuge. Zeit zu warten, hatte ich genug. Und dann kam die Gelegenheit. Das Geld reichte noch für eine Reise nach Brasilien und für die stille Teilnahme an einem Spiel. Oder genauer gesagt, an einem Spiel film . Von Quint Tempelhoff. Er hat es gut vorbereitet, hat alles in seinem Computer festgehalten. Ich konnte mich bestens orientieren, ich hatte die gesamten Informationen, die gesamte Korrespondenz. Und an das Versprechen, mich nicht blicken zu lassen, habe ich mich bis fast zum Schluss auch vorbildlich gehalten. Dazu brauchte ich nichts weiter, als das hier.« Tobias ging zu seinem Laptop und drückte eine Taste. Auf dem Bildschirm erschienen in Kleinformat die vierzehn Monitore.
»Ich hatte alles im Blick«, sagte Tobias mit einem bitteren Stolz. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, so sagt man es doch, oder? Genau wie der große Quint Tempelhoff habe auch ich mein Auge auf euch geworfen.« Tobias sah zu Solo. »Aber ich konnte noch mehr, denn unser Vater hat nicht gemerkt, dass ich mich in sein System eingeloggt habe. Ich konnte Bilder einfrieren oder Loops einstellen oder Kameras ausschalten, ganz wie ich wollte. Und wenn du geschlafen hast, dann konnte ich sogar nach draußen und ein bisschen Solo spielen.«
Der letzte Satz kam als Krächzen aus ihm heraus. Tobias wandte sich zu mir und diesmal hielt sein Blick mich fest. Er sah mir tief in die Augen und der Ausdruck darin traf mich so unvorbereitet, dass ich nach Luft schnappte.
Der Kuss im Meer, dachte ich. Er hat ihn berührt, genau so sehr wie mich. Ich schloss die Augen, ich konnte es nicht ertragen, ihn weiter anzusehen, und als ich die Augen wieder öffnete, hatte sich Tobias von mir abgewandt.
Er räusperte sich mehrere Male, bevor er fortfuhr, aber seine Stimme schien ihm nicht mehr zu gehorchen. »Das war’s«, presste er heiser hervor. »Das war die ganze Geschichte. Noch Fragen?«
Solo schwieg. Mir war so übel, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
Ja, ich hatte Fragen. Viele Fragen. Wie er den Mord an Darling so punktgenau hatte planen können, was mit Joker geschehen war, wem das Handy gehörte, auf dem Solo und ich die ganzen Nachrichten gelesen hatten, wie Tempelhoff auf die Insel gekommen und wie er seinem Sohn begegnet war. Was Tobias mit ihm vorhatte, ob er ihn erpressen wollte, was jetzt mit uns geschehen würde … und unzählige Fragen mehr. Aber ich brachte keine über die Lippen. Ich stand nur da und sah Tobias an und hasste mich für das warme Gefühl, das mich dabei überkam und das gleich
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