Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
Reiternomaden waren. In Zentralbrasilien wurden Pferde erst sehr viel später durch Europäer eingeführt, und die Reaktionen der Eingeborenen auf das ihnen unbekannte Tier werden in Karl von den Steinens Bericht, den Kafka bei sich trug, lebhaft geschildert.
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Kafka möchte sein wie Voltaire
Kafka blieb vor einem alten Stich stehen, der eine Episode aus dem Leben Voltaires zeigt; von dieser Darstellung konnte er sich nicht losreißen, auch später sprach er oft von ihr: Man sieht Voltaire, der eben aus dem Bett aufgesprungen ist, er hat noch die Nachtmütze auf dem Kopf – und, die eine Hand befehlend ausgestreckt, während er mit der andern die Hose hält, in die er schlüpft, beginnt er schon blitzenden Auges seinem Diener, der seitwärts an einem Tischchen sitzt, etwas zu diktieren. Ich verstand wohl, was Kafka an dem Stich […] so sehr bezauberte: das Feuer des Geistes, die direkt in Geist umgesetzte ungemeine Vitalität eines auserkorenen Menschen.
Das Pathos von Max Brods Schilderung führt ein wenig in die Irre: Tatsächlich bewunderte Kafka nicht nur »auserkorene« Menschen, sondern schlechterdings jeden, der produktiv, geistesgegenwärtig und konzentriert einer selbstbestimmten Arbeit nachging, ohne sich von inneren oder äußeren Störungen ablenken zu lassen. Ein Schriftsteller, der des Morgens zu diktieren beginnt, noch ehe er seine Hosen anhat, war daher für Kafka eine besondere Attraktion – vor allem, wenn er an die eigenen im Büro verbrachten Vormittage und an seine fragile, irritierbare und immer wieder für Monate aussetzende literarische Produktivität dachte.
Kafka und Brod sahen das Ölgemälde Jean Hubers am 13. Oktober 1910 im Musée Carnavalet in Paris. Der schweizer Jurist Jean Huber (1721–1786) gehörte in Genf zum Freundeskreis Voltaires; noch zu Lebzeiten wurde er für seine zahlreichen, teils karikaturistischen Porträts Voltaires so berühmt, dass man ihn den ›Voltaire-Huber‹ nannte. Katharina II. bestellte bei ihm sogar eine ganze Serie häuslicher Szenen aus dem Leben des Philosophen (die später einem Brand zum Opfer fielen). Auch das Motiv, das Kafka im Pariser Museum bewunderte, malte Huber auf Bestellung in mehreren Versionen – teils mit, teils ohne Hund.
Jean Huber, Le Lever de Voltaire
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Kafka schreibt ein Gedicht und liebt es
Von Kafka sind nur gelegentliche lyrische Versuche überliefert, meist wenige hingeworfene Verse ohne Titel. Weder in den autobiografischen Zeugnissen noch in Max Brods Erinnerungen ist je die Rede davon, dass Kafka an die Veröffentlichung dieser Zeilen dachte. Auch hat er niemals versucht, seine lyrische Begabung durch ein umfänglicheres Werk auf die Probe zu stellen (wie er es für die Form des Dramas mit dem Gruftwächter unternahm).
Es ist jedoch vorgekommen, dass Kafka eigene Verse schätzte und der Überlieferung für wert hielt. So findet sich auf einem Kalenderblatt vom 17. September 1909 das folgende titellose Gedicht:
Kleine Seele
springst im Tanze
legst in warme Luft den Kopf
hebst die Füsse aus glänzendem Grase
das der Wind in zarte Bewegung treibt
Dieses Gedicht behielt Kafka im Gedächtnis; etwa zwei Jahre später trug er es spontan in ein Stammbuch ein, das ihm ein Bekannter aus dem Kaffeehaus vorlegte, ein Sammler namens Anton Max Pachinger (siehe Fundstück 19).
Außerdem bewahrte Kafka das Kalenderblatt mit der Handschrift sorgfältig auf. Erhalten blieb es zwischen den Seiten eines der Oktavhefte, die er 1917/18 in Zürau benutzte, wo er für acht Monate auf dem Gut seiner Schwester Ottla lebte. Entweder hat Kafka das Blatt dort eingelegt, während das Heft bereits in Benutzung war, möglicherweise während eines kurzen Besuchs in Prag. Oder das Gedicht geriet versehentlich in das Zürauer Heft, als Max Brod an Kafkas Nachlass arbeitete. Auch dies würde jedoch voraussetzen, dass Kafka selbst das Kalenderblatt bis zu seinem Tod aufbewahrte, denn Einblick in die Oktavhefte erhielt Brod erst danach.
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Versuch einer Rezension
Ein Damenbrevier
Wenn man sich in die Welt aufatmend entläßt, wie vom hohen Gerüst der Schwimmer in den Fluß, gleich und später manchmal von Gegenstößen wie ein liebes Kind verwirrt, aber immer mit schönen Wellen zur Seite in die Luft der Ferne treibt, dann mag man wie in diesem Buch ziellos mit geheimem Ziel die Blicke über das Wasser richten, das einen trägt und das man trinken kann und das für den auf seiner Fläche ruhenden Kopf grenzenlos geworden
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