Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
formulieren. Anzenbacher hatte den Verdacht, dass seine 20jährige Verlobte Elisabeth (›Liesl‹) ihm mit einem Lehrer untreu geworden war, und er unterrichtete Kafka genauestens über seine Nachforschungen zu diesem Vorfall. Am 24. Januar heißt es im Tagebuch:
Anzenbacher kann sich nicht beruhigen. Trotz des Vertrauens, das er zu mir hat und trotzdem er Rat von mir will, erfahre ich die schlimmsten Einzelheiten immer nur beiläufig während des Gespräches, wobei ich immer das plötzliche Staunen möglichst unterdrücken muss, nicht ohne das Gefühl, dass er meine Gleichgültigkeit gegenüber der schrecklichen Mitteilung entweder als Kälte empfinden muss, oder aber als grosse Beruhigung. So ist es auch gemeint. Die Kussgeschichte erfuhr ich in folgenden zum Teil durch Wochen getrennten Etappen: Ein Lehrer hat sie geküsst – sie war in seinem Zimmer – er hat sie mehrmals geküsst – sie war regelmässig in seinem Zimmer, weil sie eine Handarbeit für A.’ Mutter machte und die Lampe des Lehrers gut war – sie hat sich willenlos küssen lassen – früher schon hat er ihr eine Liebeserklärung gemacht – sie geht trotz allem noch mit ihm spazieren – wollte ihm ein Weihnachtsgeschenk machen einmal hat sie geschrieben, es ist mir etwas unangenehmes passiert, aber nichts zurückgeblieben.
A. hat sie in folgender Weise ausgefragt: Wie war es? Ich will es ganz genau wissen? Hat er Dich nur geküsst? Wie oft? Wohin? Ist er nicht auf Dir gelegen? Hat er Dich betastet? Wollte er Deine Kleider ausziehn?
Antworten: Ich sass auf dem Kanapee mit der Handarbeit, er an der andern Seite des Tisches. Dann kam er herüber, setzte sich zu mir und küsste mich, ich rückte von ihm weg zum Kanapeepolster und wurde mit dem Kopf auf das Polster gedrückt. Ausser dem Küssen geschah nichts.
Während des Fragens sagte sie einmal: »Was denkst Du nur? Ich bin ein Mädchen.«
Anzenbacher gab sich damit jedoch nicht zufrieden; weder ein ausführlicher Briefwechsel mit der Verlobten noch die Argumente, die Kafka für die wahrscheinliche Treue der jungen Frau anführte, vermochten ihn zu beschwichtigen. Am 2. Februar notierte Kafka:
Gestern war A[nzenbacher] in Schluckenau. Sitzt den ganzen Tag mit ihr im Zimmer und hört, das Packet mit sämtlichen Briefen (sein einziges Gepäck) in der Hand, nicht auf, sie auszufragen. Erfährt nichts Neues, eine Stunde vor der Abfahrt fragt er: »war während des Küssens ausgelöscht?« und erfährt die ihn trostlos machende Neuigkeit, dass W. während des (zweiten) Küssens ausgelöscht hat. W. zeichnete an der einen Seite des Tisches, L. sass an der andern Seite (in W.’s Zimmer, um 11 Uhr abends) und las ›Asmus Semper‹ vor. Da steht W. auf, geht zum Kasten um etwas zu holen (L. glaubt einen Cirkel, A. glaubt ein Präservativ) löscht dann plötzlich aus, überfällt sie mit Küssen, sie sinkt gegen das Kanapee, er hält sie an den Armen, an den Schultern und sagt zwischendurch ›Küsse mich!‹ […] A: Ich muss doch Klarheit haben (er denkt daran, sie vom Arzt untersuchen zu lassen) wie wenn ich dann in der Hochzeitsnacht erfahre, dass sie gelogen hat. Vielleicht ist sie nur deshalb so ruhig, weil er ein Präs. benützt hat.
Ob diese Befürchtung sich bewahrheitete, ist nicht überliefert. Anzenbacher heiratete Elisabeth Rämisch im August 1914. Er wurde schon zu Beginn des Krieges eingezogen und diente als Offizier. 1916 wurde er bei Przemyśl (Galizien) von einem russischen Bajonett durchbohrt.
Elisabeth Rämisch heiratete 1924 ein zweites Mal – einen Lehrer. Sie starb bereits 1931, im Alter von 37 Jahren.
Elisabeth Rämisch
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Kafka als Teufel
Vor der Auslage von Casinelli drückten sich 2 Kinder herum, ein etwa 6 Jahre alter Junge, ein 7 Jahre altes Mädchen, reich angezogen, sprachen von Gott und von Sünden. Ich blieb hinter ihnen stehn. Das Mädchen vielleicht katholisch hielt nur das Belügen Gottes für eine eigentliche Sünde. Kindlich hartnäckig fragte der Junge, vielleicht ein Protestant, was das Belügen des Menschen oder das Stehlen sei. »Auch eine sehr grosse Sünde« sagte das Mädchen »aber nicht die grösste, nur die Sünden an Gott sind die grössten, für die Sünden an Menschen haben wir die Beichte. Wenn ich beichte steht gleich wieder der Engel hinter mir; wenn ich nämlich eine Sünde begehe, kommt der Teufel hinter mich, nur sieht man ihn nicht.« Und des halben Ernstes müde, drehte sie sich zum Spasse auf den Haken um und sagte:
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