Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
der kleine Adjunkt uns helfen will. Wenn wir in Gmünd übernachten, wird er uns früh, wo er allein im Bureau ist, im Geheimen nach Prag mit dem Personenzug durchlassen, wir kommen dann um 4 Uhr nachmittag nach Prag. Dem Inspektor gegenüber sollen wir sagen, dass wir mit dem Morgenzug nach Wien fahren werden. Wunderbar! Allerdings nur verhältnismässig wunderbar, denn nach Prag werde ich ja doch telegraphieren müssen. Immerhin. Der Inspektor kommt, wir spielen eine kleine Komödie den Wiener Morgenzug betreffend, dann schickt uns der Adjunkt fort, abend sollen wir ihn zur Besprechung des Weiteren im Geheimen besuchen. Ich in meiner Blindheit denke, das käme von Dir, während es in Wirklichkeit nur der letzte Angriff der Gegenkräfte ist. Nun gehn wir also, die Frau und ich, langsam aus dem Bahnhof (der Schnellzug der uns hätte weiter bringen sollen, steht noch immer da, die Gepäckrevision dauert ja lange). Wie weit ist es in die Stadt? Eine Stunde. Auch das noch. Aber es zeigt sich, dass auch beim Bahnhof 2 Hotels stehn, in eines werden wir gehn. Ein Geleise führt nahe an den Hotels vorbei, das müssen wir noch überqueren, aber es kommt gerade ein Lastzug, ich will zwar noch rasch vorher hinübergehn, aber die Frau hält mich zurück, nun bleibt aber der Lastzug gerade vor uns stehn und wir müssen warten. Eine kleine Beigabe zum Unglück, denken wir. Aber gerade dieses Warten, ohne das ich Sonntag nicht mehr nach Prag gekommen wäre, ist die Wendung. Es ist, als hättest Du, so wie Du die Hotels am Westbahnhof abgelaufen hast, jetzt alle Tore des Himmels abgelaufen, um für mich zu bitten, denn jetzt kommt Dein Polizist den genug langen Weg vom Bahnhof atemlos uns nachgelaufen und schreit: »Schnell zurück, der Inspektor lässt Sie durch!« Ist es möglich? So ein Augenblick würgt an der Kehle. Zehnmal müssen wir den Polizisten bitten, ehe er Geld von uns nimmt. Jetzt aber zurücklaufen, das Gepäck aus dem Inspektorat holen, damit zur Passstelle laufen, dann zur Zollrevision. Aber jetzt hast Du schon alles in Ordnung gebracht, ich kann mit dem Gepäck nicht weiter, da ist schon zufällig ein Gepäckträger neben mir, bei der Passstelle komme ich ins Gedränge, der Polizist macht mir den Weg frei, bei der Zollrevision verliere ich, ohne es zu wissen, das Etui mit den goldenen Hemdknöpfen, ein Beamter findet es und reicht es mir. Wir sind im Zug und fahren sofort, endlich kann ich mir den Schweiss von Gesicht und Brust wischen. Bleib immer bei mir!
Bahnhof von Gmünd, um 1900
Kafka schrieb diesen Brief an Milena Jesenská am 5. Juli 1920, einen Tag, nachdem er aus Wien in Prag eingetroffen war. Es war dies sein erster Tag im Büro nach mehr als drei Monaten. Denn bereits Anfang April war Kafka nach Meran gereist, um in dem dortigen milden Klima seine Tuberkulose zu kurieren. Von Meran aus hatte er die Korrespondenz mit Milena Jesenská begonnen, der Briefwechsel intensivierte sich sehr rasch, so dass sie Kafka dazu überreden konnte, bei seiner Heimreise den Umweg über Wien zu wählen, um sie zu treffen. Im Glück der vier gemeinsamen Tage vergaß jedoch Kafka, dass er in Österreich kein bloßer ›Durchreisender‹ mehr war und einen weiteren Stempel in seinem Visum benötigte, um das Land über die Grenzstation Gmünd wieder zu verlassen.
In der von Kafka erwähnten Lerchenfelderstraße befand sich die Wohnung Jesenskás; das »Riva-Ungeziefer« ist eine Erinnerung an das Hotel Riva am Wiener Südbahnhof. Die körperliche Erschöpfung, die er am Ende seines Berichts andeutet, ging natürlich auf seine Krankheit zurück: Das schnelle Gehen mit schwerem Gepäck verursachte ihm Atemnot und Schweißausbrüche. Denkbar ist sogar, dass Kafkas sichtlich schlechte körperliche Verfassung der Grund für die unverhoffte Nachgiebigkeit des Inspektors war. Darauf deutet auch die Bitte der rumänischen Jüdin hin, doch wenigstens Kafka durchzulassen.
Sein Abenteuer an der Grenze hatte aber auch noch eine politische Pointe, die Kafka als Zeitungsleser nicht entgangen sein kann. Aufgrund des Friedensvertrags von St. Germain (September 1919), der die Staatsgrenzen Österreichs neu festlegte, wurden die Gmünder Nachbargemeinden Unter-Wielands und Böhmzeil samt dem Gmünder Bahnhof der Tschechoslowakei zugeschlagen, die neue Grenze verlief demnach zwischen Bahnhof und Stadt. Der Vertrag trat am 16. Juli 1920 in Kraft, am 1. August wurde der Bahnhof von tschechischen Beamten übernommen. Da es nun im
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