Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
österreichischen Teil von Gmünd vorläufig keinen geeigneten Bahn-Haltepunkt gab, wurde die österreichische Pass- und Zollkontrolle weiterhin auf dem Bahnhofsgelände erledigt, auf tschechischem Gebiet. Das heißt: Bereits vier Wochen nach seinem Disput mit dem entnervten Kafka benötigte der österreichische Inspektor selbst einen Pass, um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen.
81
Ein Doppelgänger in Berlin
Im September 1923 übersiedelte Kafka von Prag nach Berlin-Steglitz, um dort gemeinsam mit Dora Diamant zu leben. Finanzielle Schwierigkeiten aufgrund der Hyperinflation nötigten ihn dazu, innerhalb weniger Monate zweimal umzuziehen, ehe er im März 1924 endgültig die Stadt verlassen musste. Sein gesundheitlicher Zustand hatte sich derart verschlechtert, dass ein Aufenthalt in einem Sanatorium, gegen den er sich bis zuletzt sträubte, unvermeidlich wurde.
Zufälligerweise kam offenbar fast zur selben Zeit ein weiterer Franz Kafka nach Berlin. Die Herkunft dieses Namensvetters ist unbekannt, im Berliner Adressbuch von 1923 ist er noch nicht verzeichnet, wohl aber in dem von 1924, und zwar als Eigentümer des Hauses, in dem er lebte: Bezirk Schöneberg, Würzburger Straße 4. Bereits 1926 verschwindet sein Name wieder.
Kafka selbst findet sich in den Berliner Adressbüchern nicht, da seine jeweiligen Aufenthalte – teilweise als Untermieter – zu kurz waren. (Zu einer von Kafkas Berliner Adressen siehe Fundstück 11.)
Spiegelungen
82
Kafka bekommt Post von einem Leser
Charlottenburg, 10/4.17
Sehr geehrter Herr,
Sie haben mich unglücklich gemacht.
Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären.
Meine Kusine hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung.
Die Mutter hat das Buch meiner anderen Kusine gegeben und die hat auch keine Erklärung.
Nun haben sie an mich geschrieben. Ich soll Ihnen die Geschichte erklären. Weil ich der Doctor der Familie wäre. Aber ich bin ratlos.
Herr! Ich habe Monate hindurch im Schützengraben mich mit dem Russen herumgehauen und nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn aber mein Renommee bei meinen Kusinen zum Teufel ginge, das ertrüg ich nicht.
Nur Sie können mir helfen. Sie müssen es; denn Sie haben mir die Suppe eingebrockt. Also bitte sagen Sie mir, was meine Kusine sich bei der Verwandlung zu denken hat.
Mit vorzüglicher Hochachtung
ergebenst Dr Siegfried Wolff
Dieser einzige überlieferte Leserbrief an Kafka ist keinesfalls, wie vielfach vermutet, ein Ulk eines Freundes oder Kollegen. Den Kafka-Leser Siegfried Wolff gab es tatsächlich, er wurde 1880 in Ilvesheim (Baden) geboren. Ab 1904 war er Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Zeitung , er promovierte 1912 in Tübingen und war später im Vorstand mehrerer Berliner Banken tätig. Im Frühjahr 1915 wurde er verwundet – nach tatsächlich monatelangem Kampfeinsatz an der russischen Front. Er starb 1952 in Haifa.
Als Wolff den Brief an Kafka schickte, lebte er in Berlin-Charlottenburg im selben Haus wie die Unterhaltungsschriftstellerin Hedwig Courths-Mahler, und in eben diesem Jahr 1917 notierte sich Kafka die Adresse der Autorin, mit der ihn sonst überhaupt nichts verband: Knesebeckstraße 12. Das könnte darauf hindeuten, dass er hinter diese eigenartige Koinzidenz auch selbst schon gekommen war. Beweisen lässt es sich nicht, denn ein Kommentar Kafkas ist nicht überliefert, ebenso wenig ein Antwortschreiben.
Siegfried Wolff, 1915
83
Widmung eines blinden Dichters
Der heute nahezu vergessene Schriftsteller Oskar Baum (1883–1941) gehörte zu den wenigen engen Freunden Kafkas. In seiner Wohnung fanden regelmäßige Zusammenkünfte statt, bei denen Baum, Brod und Kafka einander aus ihren literarischen Arbeiten vorlasen. Daher kannte Kafka den 1909 erschienenen ersten Roman Baums, Das Leben im Dunkeln , bereits im Manuskript.
Da Oskar Baum seit seiner Kindheit durch einen Unfall erblindet war, behalf er sich mit Diktieren, mit Blindenschrift und – wie auch in diesem Fall – mit Buchstaben-Schablonen.
84
Kafka als Lebensberater
Kafkas Briefen und Tagebüchern ist zu entnehmen, dass er auffallend häufig zu privatesten Sorgen um Rat gefragt wurde, bisweilen auch von ferner stehenden oder sogar völlig fremden Menschen.
So wurde er Anfang 1914 von Albert Anzenbacher, einem etwa gleichaltrigen Kollegen in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, darum gebeten, an dessen prospektive Schwiegermutter einen Brief zu
Weitere Kostenlose Bücher