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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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Laut Thomsons Theorie könnten diese drei Knoten im Prinzip Modelle von drei Atomen zunehmender Komplexität – zum Beispiel von Wasserstoff-, Kohlenstoff- und Sauerstoffatom – sein. Dennoch war eine vollständige Knotenklassifikation bitter nötig, und derjenige, der sich daranmachte, Knoten auseinanderzusortieren, war Thomsons Freund, der schottische Physiker und Mathematiker Peter Guthrie Tait (1831–1901).

    Abbildung 54
    Die Fragen, die sich Mathematiker über Knoten stellen, unterscheiden sich nicht allzu sehr von denen, die man sich über ein Stück verknotete Schnur oder ein verwirrtes Garnknäuel stellen könnte. Ist es wirklich verknotet? Ist der betrachtete Knoten vielleicht eine andere Form eines anderen und damit diesem äquivalent? Die letzte Frage meint Folgendes: Kann ein Knoten so verformt oder deformiert werden, dass er die Gestalt eines anderen annimmt, ohne dass dazu die Stränge aufgebrochen oder, wie bei einem Taschenspielertrick, einer durch den anderen hindurchgezogen werden muss? Wie wichtig diese Frage ist, illustriert Abbildung 54; sie zeigt, dass man durch gewisse Manipulationen zwei höchst unterschiedliche Formationen ein und desselben Knotens erhalten kann. Letzten Endes sucht die Knotentheorie nach einer sicheren Möglichkeit zu beweisen, dass bestimmte Knoten (zum Beispiel der Kleeblattknoten und der Achterknoten in Abbildung 53b und 53c) sich wirklich voneinander unterscheiden,wohingegen sie oberflächliche, nur scheinbare Unterschiede innerhalb einzelner Knoten wie die in Abbildung 54 übergeht.
    Tait begann seine Klassifikation auf höchst mühevolle Weise. Ohne einen handlichen mathematischen Formalismus – sprich: ein solides mathematisches Grundprinzip, das ihm bei seiner Systematik hätte helfen können – fertigte er lange Listen von Knoten mit einer, zwei, drei Kreuzungen und so weiter an. In Zusammenarbeit mit Reverend Thomas Penyngton Kirkman (1806–1895), einem anderen begeisterten Amateurmathematiker, begann er, systematisch die Kurven durchzugehen, um Doppelungen durch äquivalente Knoten zu eliminieren. Die Aufgabe war alles andere als trivial. Man muss sich klarmachen, dass an jeder Überkreuzung zwei Möglichkeiten zur Wahl stehen, welcher Abschnitt oben und welcher unten zu liegen kommen soll. Das bedeutet, dass für einen Kurvenverlauf – ein Knotendiagramm – mit, sagen wir, sieben Kreuzungen 2 × 2 × 2 × 2 × 2 × 2 × 2 = 128 verschiedene Knoten in Betracht kommen. Mit anderen Worten: Ein Menschenleben ist zu kurz, um die Klassifikation von Knoten mit zehn oder mehr Kreuzungen auf solch intuitive, händische Weise zu bewerkstelligen. Dennoch blieb Taits Arbeit nicht ungewürdigt: Der große James Clerk Maxwell, dem wir die Formulierung der klassischen Theorie des Elektromagnetismus verdanken, betrachtete Thomsons Atomtheorie mit Respekt und stellte fest, sie erfülle mehr Bedingungen als jede Atomtheorie bis dahin. Und indem er gleichzeitig den Beitrag von Tait würdigte, dichtete Maxwell folgenden Vers:
    Befrei dein Knäul von Knoten
Schaff ein vollendet’ Geflecht,
In dem die Schlaufen und Schlingen
Einander durchdringen recht.
    Bis zum Jahr 1877 hatte Tait alternierende Knoten mit bis zu sieben Kreuzungen klassifiziert. Alternierende Knoten sind solche, bei denen die Kreuzungen wie bei einem Webteppich abwechselnd Über- und Unterkreuzungen sind. Tait machte darüber hinaus noch einige pragmatischere Entdeckungen in Gestalt grundlegender Prinzipien, die man später
Tait’sche Vermutungen
taufen sollte. Diese Vermutungen waren übrigens derartig substanziell, dass sie allen Versuchen, sieschlüssig zu beweisen, bis Ende der 1980er Jahre widerstanden. Im Jahr 1855 veröffentlichte Tait Tabellen von Knoten mit bis zu zehn Kreuzungen und beschloss, an diesem Punkt aufzuhören. Unabhängig von ihm hatte Charles Newton Little (1858–1923, Professor an der University of Nebraska) im Jahr 1899 ebenfalls Tabellen nichtalternierender Knoten mit bis zu zehn Kreuzungen veröffentlicht.
    Lord Kelvin war Tait stets überaus wohlgesinnt. Bei einem Festakt im Peterhouse College in Cambridge, bei dem ein Porträt von Tait enthüllt wurde, sagte er:
    Ich erinnere mich, wie Tait einst bemerkte, Wissenschaft sei das Einzige, für das es sich zu leben lohnt. Es war ernsthaft gesagt, aber er selbst hat seine Worte Lügen gestraft. Tait war ein großer Leser. Er konnte Shakespeare, Dickens und Thackeray auswendig rezitieren. Sein Gedächtnis war phänomenal. Was er

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