Ist Gott ein Mathematiker
verschieden sein konnten. Das Alexander-Polynom war daher zwar ungemein hilfreich, aber leider kein perfektes Instrument zur Unterscheidung von Knoten.
Mathematiker brachten die nächsten vier Jahrzehnte damit zu, die konzeptuellen Grundlagen des Alexander-Polynoms zu erforschen und weitere Einsichten in die Eigenschaften von Knoten zu gewinnen. Warum sie sich so sehr in dieses Thema vertieften? Sicher nicht der praktischen Anwendung halber. Thomsons Atommodell war längst vergessen, und weit und breit war in Natur- und Wirtschaftswissenschaften, der Architektur und allen möglichen anderen Disziplinen keinerlei Problem in Sicht, das eine Knotentheorie erforderlich gemacht hätte. Die Mathematiker der Welt brachten nur deshalb ungezählte Stunden mit Knoten zu, weil sie neugierig waren! Für diese Leute war einfach die Vorstellung, Knoten und die Prinzipien, die diesen zugrunde lagen, verstehen zu können, von ausgemachter Attraktivität. Der plötzliche Erkenntnisschub, den das Alexander-Polynom ihnen bot, war für Mathematiker nicht minder unwiderstehlich als die Herausforderung, den Mount Everest zu besteigen, für George Mallory gewesen war. Auf die Frage, warum er den Berg besteigen wolle, gab er eine Antwort, die zum geflügelten Wort wurde: «Weil er da ist!»
Ende der 1960er Jahre entdeckte der erfolgreiche angloamerikanische Mathematiker John Horton Conway ein Verfahren für das allmähliche «Entknoten» von Knoten und deckte damit die Beziehung zwischen Knoten und den ihnen zugehörigen Alexander-Polynomenauf. Insbesondere führte Conway zwei einfache «chirurgische» Operationen ein, die als Basis für die Definition neuer Knoteninvarianten dienen konnten. Conways Operationen, die man als
Flip
und
Glätten
bezeichnet, sind schematisch in Abbildung 55 dargestellt. Beim Flip (Abbildung 55a) wird ein Knoten transformiert, indem man den oben verlaufenden Abschnitt mit dem unteren vertauscht (die Zeichnung illustriert auch, wie man dieses bei einem Knoten in einem echten Stück Schnur bewerkstelligen könnte). Man beachte, dass der Flip die Eigenschaften des Knotens verändert. Sie können sich beispielsweise leicht davon überzeugen, dass der Kleeblattknoten aus Abbildung 53b durch einen Flip zum Unknoten (Abbildung 53a) würde. Conways Glättungsschritt eliminiert die Kreuzung ganz (Abbildung 55b), indem er die Abschnitte «verkehrt» wieder zusammenflickt. Selbst mitdem durch Conways Vorgehen neu gewonnenen Verständnis aber blieben die Mathematiker nahezu zwei weitere Jahrzehnte hindurch davon überzeugt, dass sich keine weiteren Knoteninvarianten (von der Art, wie die Alexander-Polynome sie darstellten) würden finden lassen. Diese Situation änderte sich dramatisch im Jahr 1984.
Abbildung 55
Abbildung 56
Der neuseeländische Mathematiker Vaughan Jones hatte sich zunächst überhaupt nicht mit Knoten befasst. Vielmehr untersuchte er eine noch viel abstraktere Welt – die mathematische Welt der
Von-Neumann- Algebren
. Jones fiel auf, dass eine Beziehung, die sich in Von- Neumann-Algebren ergab, einer Beziehung in der Knotentheorie verdächtig ähnlich sah, und traf sich daraufhin mit dem Knotentheoretiker Joan Birman von der Columbia University, um über mögliche Anwendungen zu diskutieren. Eine genauere Untersuchung dieser Beziehung legte schließlich eine völlig neue Knoteninvariante offen, die man
Jones-Polynom
taufte. Man erkannte das Jones-Polynom rasch als im Vergleich zum Alexander-Polynom weitaus sensitivere Invariante. So unterscheidet es beispielsweise zwischen Knoten und deren Spiegelbildern (beispielsweise dem rechts- und dem linkshändigen Kleeblattknoten in Abbildung 56), für die die Alexander-Polynome identisch ausfallen. Wichtiger aber war, dass Jones’ Entdeckung unter den Knotentheoretikern für beispiellose Aufregung sorgte. Die Kunde von einer neuen Invariante trat eine solche Welle von Aktivität los, dass die Welt der Knoten plötzlich aussah wie das Börsenparkett an einem Tag, an dem die Bundesbank unerwartet den Zinssatz gesenkt hat.
In Jones’ Entdeckung steckte eine ganze Menge mehr als lediglich ein Fortschritt für die Knotentheorie. Das Jones-Polynom verknüpfte mit einem Schlag ein verblüffendes Spektrum an Mathematikschen und physikalischen Forschungszweigen von der statistischen Mechanik (wie man sie zum Beispiel für Untersuchungen zum Verhalten größerer Anzahlen von Atomen oder Molekülen verwendet) bis hin zur Theorie der Quantengruppen (einem Zweig
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