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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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Menschen würden vermutlich zu dem Schluss kommen,dass es sich um die natürlichen Zahlen handeln müsse. Was könnte «natürlicher» sein als 1, 2, 3, …? Der deutsche Mathematiker und Intuitionist Leopold Kronecker (1823–1891) prägte den berühmten Ausspruch: «Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht; alles andere ist Menschenwerk.» Könnte man also zeigen, dass sogar die natürlichen Zahlen ihren Ursprung im menschlichen Geist haben, wäre dies ein überzeugendes Argument zugunsten des «Erfindungsparadigmas». Hier noch einmal Atiyahs Sicht der Dinge: «Lassen Sie uns einen Augenblick annehmen, Intelligenz hätte ihren Sitz nicht in der Menschheit, sondern in irgendeinem komplett isolierten, solitär lebenden Polypen in den tiefsten Tiefen des Pazifik genommen. Dieses Wesen hätte keinerlei Begegnungen mit einzelnen Gegenständen, sondern nur mit dem Wasser, von dem es umgeben ist. Seine sensorischen Erfahrungen bestünden aus Fließgeschwindigkeit, Temperatur und Druck. In einem solchen reinen Kontinuum stellt sich die Frage nach dem Diskreten nicht, und so gäbe es nichts zu zählen.» Mit anderen Worten: Atiyah ist davon überzeugt, dass sogar ein so grundlegendes Konzept wie das der natürlichen Zahlen vom Menschen durch Abstraktion von Elementen der physikalischen Welt (Kognitionswissenschaftler würden sagen, durch das
Verankern
von Metaphern)
geschaffen
wurde. Anders ausgedrückt: Die Zahl 12 beispielsweise steht genauso für eine gemeinsame Eigenschaft aller Dinge, die im Dutzend vorkommen, wie das Wort «Gedanken» für eine Vielfalt an Prozessen steht, die in unserem Gehirn vor sich gehen.
    Der Leser mag sich an dem hypothetischen Kosmos eines Polypen stoßen, der hier zur Illustration des Arguments bemüht wird, und ins Feld führen, dass es doch ein und nur ein unbezweifelbares Universum gibt und dass jede Vermutung im Zusammenhang mit diesem einen Universum zu prüfen ist. Das aber liefe auf das Zugeständnis hinaus, dass das Konzept der natürlichen Zahlen tatsächlich irgendwie vom Universum der menschlichen Erfahrung abhängt! Denken Sie daran, dass dies genau das ist, was Lakoff und Núñez meinen, wenn sie Mathematik als «Verkörperung» ansehen.
    Ich habe soeben den Standpunkt vertreten, dass die Konzepte und Begriffe unserer Mathematik ihren Ursprung im menschlichen Geist haben. Sie fragen sich vielleicht, warum ich dann vorher daraufherumgeritten habe, dass ein Großteil der Mathematik tatsächlich eine Entdeckung ist, eine Haltung, die sehr viel näher bei den Platonikern zu liegen scheint.
Erfindung und Entdeckung
    In unserer Alltagssprache schwankt die Unterscheidung von Entdeckung und Erfindung zwischen glasklar und verschwommen. Niemand würde behaupten wollen, Shakespeare habe
Hamlet
entdeckt oder Madame Curie das Radium erfunden. Andererseits werden neue Medikamente gegen bestimmte Arten von Krankheiten in der Regel als Entdeckungen gefeiert, obschon sie oftmals die penible Synthese neuer chemischer Verbindungen voraussetzen. Ich möchte an dieser Stelle gerne ein sehr spezielles Beispiel aus der Mathematik etwas ausführlicher erörtern, das, wie ich finde, nicht nur dazu beitragen kann, die Unterscheidung zwischen Erfindung und Entdeckung zu klären, sondern auch wertvolle Einsichten in den Prozess vermittelt, mittels dessen Mathematik fortschreitet und sich entwickelt.

    Abbildung 61
    Im sechsten Buch der
Elemente
, jenes monumentalen Werks des Euklid zur Geometrie, finden wir die Definition einer bestimmten Art von Aufteilung einer Strecke in zwei ungleiche Teile (eine frühere Definition dieser Aufteilung mit Bezug auf Flächen findet sich in Buch II). Laut Euklid gilt eine Strecke
AB
, die durch einen Punkt
C
in zwei Abschnitte unterteilt wird (Abbildung 61), «als
stetig geteilt
, wenn sich, wie die ganze Strecke zum größeren Abschnitt, so der größere Abschnitt zum kleineren verhält», sprich, in diesem Fall das Längenverhältnis der beiden Streckenabschnitte (
AC
/
CB
) gleich dem Quotienten aus der gesamten Strecke und dem längeren Abschnitt (
AB
/
AC
) ist. Seit dem 19. Jahrhundert ist dieses Verhältnis gemeinhin als
GoldenerSchnitt
bekannt. Ein bisschen Algebra ergibt zwanglos, dass der Goldene Schnitt auf

    Abbildung 62

    Die erste Frage, die Sie sich stellen, lautet womöglich, warum sich Euklid die Mühe gemacht hat, diese spezielle Streckenunterteilung zu definieren und dem Verhältnis einen Namen zu geben. Schließlich gibt es unendlich viele

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